Zwischen Schüttelstraße, Haarmarkt und Stephansplatz, Teil I: 1833

Turner: Stephansdom und Lazanskyhaus, 1833
1833: Der Stock-im-Eisen-Platz, wie ihn Joseph Mallord William Turner sah. Sammlung: Tate (Digitalisat).

William Turner (1775–1851) richtet seinen Blick auf das eindrucksvolle Barockhaus neben dem gotischen Dom. Schnell bannt er die steinernen Silhouetten auf Papier, verewigt die beiden Wiener Gebäude in seinem Skizzenbuch, sie werden ihn auf der Weiterreise nach Venedig begleiten. Wir schreiben das Jahr 1833 und der rastlose englische Maler ist – wieder einmal – unterwegs auf dem Kontinent.

Rudolf von Alt: Stephansplatz (Detail), 1832
Barocke Bleibe neben dem Dom: Lazar Goldsteins Wohnhaus, 1832 von Rudolf von Alt auf Leinwand gebannt.

Weiß Lazar (Gotthold) Goldstein davon? Vermutlich nicht. Er logiert in dem von Turner beäugten Wohnhaus am Stock-im-Eisen-Platz, gleich neben dem Stephansdom, Konskriptionsnummer 875.1 Der in Wiens Gesellschaft bestens bekannte Großhändler ist Witwer, 1830 hatte er das Ableben seiner Gattin Henriette beklagen müssen. Nun, im Jahr 1833, als Malerfürst Turner den Stephansplatz umrundet, ist Goldstein mit der Hochzeit seiner Tochter Emma beschäftigt, Joseph Lanner wird sich dazu walzermäßig einbringen, Emmas Tochter Henriette wird sich später in Paris im Umfeld des Kunstmäzens Charles Ephrussi bewegen – in diesem Blog wurde davon ja schon berichtet. Es ist also eine bemerkenswerte Karriere, auf die Herr Goldstein, der Pater familias, zurückblickt, und sie war … WEITERLESEN.

Vorschau auf: Zwischen Schüttelstraße, Haarmarkt und Stephansplatz

Joseph_Lanner
Joseph Lanner, porträtiert von Philipp Steidler, ca. 1840 (Wikimedia Commons)

Schon bald wird hier ein neuer Text erscheinen. Als Vorschau dazu nun eine am 9. Dezember 1833 in der Wiener Zeitung publizierte Annonce, die auch eine Reise in die Musikgeschichte ermöglicht: Als sich Emma, Enkelin des Wiener Unternehmers Isak Löw Hofmann von Hofmannsthal (der Urgroßvater des Schriftstellers) und Tochter1 von Hofmanns langjährigem Kompagnon Lazar Goldstein, mit dem aus einer deutschen Bankiersfamilie stammenden Carl von Obermayer (viele Jahre später ein Teilhaber der Entreprise des pompes funèbres) vermählte, komponierte Wiens Musikstar Joseph Lanner zu diesem Anlass den Lock-Walzer. (Vielleicht hört man ihn ja auch einmal im Rahmen des Neujahrskonzertes?)

Emmas Tochter Henriette, die im August 1836, etwas mehr als zwei Jahre nach Joseph Lanners Walzer also, in Wien das Licht der Welt erblickte2, war später übrigens in der Pariser Kunstszene beheimatet: Als Gattin des Sammlers Gustave (Louis) Dreyfus, seinerseits ein Freund von Charles Ephrussi. Eigentlich würde man gerne mehr über sie wissen.

Joseph Lanner: Lock-Walzer, 1833
1 Quelle: Emma Goldstein auf Geni.com
2 Quelle:
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Bauarbeiterinnen auf der Weißgerberlände, ca. 1905/06

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Oben zu sehen: Tina Blaus an eine Sozialreportage gemahnendes Bild An der Weißgerberlände (high-res). Rechts im Hintergrund erblickt man die Schüttelstraße mit der Mühle und dem Neuen Wiener Tattersall (Reitstall und Pferdehandel); in letzterem logierten ab ca. 1909 auch der Philosoph Rudolf Eisler und seine Familie. Die Eislers wohnten zur Entstehungszeit des Gemäldes übrigens nur wenige Minuten von der Baustelle entfernt (Kolonitzgasse 11, siehe Lehmanns Adressbuch). Tina Blau jedenfalls war wohl besonders motiviert, die hart arbeitenden Frauen (Mörtelweiber wurden sie genannt, oder auch Ziegelschupferinnen) auf Leinwand zu bannen: Bis 1905 hatte sie in dem der Baustelle benachbarten Wohnhaus Rasumofskygasse 2 (Lehmanns Adressbuch) gelebt (ab 1907 wird sie mehrere Jahre im Pratercottage, in der Halmgasse nämlich, residieren).
Zur Bautätigkeit im Weißgerberviertel nachfolgend auch ein Text aus dem Neuen Wiener Tagblatt, 24. Dezember 1907, Seite 4 (online auf ANNO):

Das neue Viertel am Weißgerberquai

Wir haben vor einiger Zeit darüber berichtet, dass in der Gegend zwischen der Franzensbrücke und der Sophienbrücke ein neues Quaiviertel im Entstehen begriffen ist. Die unmittelbaren Anwohner dieser Gegend haben sich jetzt an das magistratische Bezirksamt des dritten Bezirkes und an das Straßenbauamt der Gemeinde Wien mit … WEITERLESEN.

Hugo Stein und die Lagerhäuser. Rustenschacherallee 42/Böcklinstraße 65 und Franzensbrückenstraße/Vivariumstraße (1928)

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Seltenes Bild: Ein Blick in die Franzensbrückenstraße mit dem Praterstern, dem Tegetthoff-Denkmal, der Verbindungsbahn und, links daran angrenzend, der Lagerhausanlage (vor 1907; ÖNB/AKON)

Unablässig und mit höchster Konzentration arbeitet Hermann Broch an seinen Texten. Später werden sie in die Romantrilogie Die Schlafwandler einfließen. Weiß der Schriftsteller von den erheblichen Umwälzungen, die seinen Onkel August Schnabel beschäftigen? Broch nennt ihn »Gustl«, Schnabel ist der Bruder seiner Mutter [1].

Es sind die Lagerhäuser an der Franzensbrückenstraße, die »Gustls« uneingeschränkte Aufmerksamkeit beanspruchen. Dunkel und wuchtig ragen sie zwischen Verbindungsbahn und Hauptallee empor, ein riesiger Gebäudekomplex, den man nur selten auf Ansichtskarten wiederfindet. Wenig verwunderlich, eigentlich: Die Anlage bildet einen irritierenden Störfaktor in der akzentuierten Erzählung vom bunten Leben rund um das weltberühmte Riesenrad. Ja, man kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass sie von den Wiener Touristikern immer schon versteckt wurde.

Als Eigentümerin des für die Infrastruktur der Donaumetropole so bedeutenden Unternehmens, das von der k.k. Wiener Handelsbank für den Produkten- und Warenverkehr noch vor seinem kommunalen Pendant gegründet wurde [2] und für dessen Erscheinungsbild auch Wilhelm von Flattich, der Architekt des Südbahnhofes, gesorgt hatte, agiert die Erste österreichische Aktiengesellschaft für öffentliche Lagerhäuser. August Schnabel ist Vizepräsident des Verwaltungsrates. Er … WEITERLESEN.

Exkurs: Auf der Hohen Warte

Villa Auspitz, Hohe Warte, 1930
Thronend auf der Hohen Warte: Die Sommervilla des Wiener Bankiers und Kunstsammlers Stefan Auspitz, ca. 1930.

Als die Vorstellung an der Staatsoper ihrem Höhepunkt zustrebt, treibt der leblose Körper von Ludwig Schüller auf der dunklen Donau, vorbei an Klosterneuburg, langsam Richtung Wien. Es ist ein lauer Abend, der Samstag vor Pfingsten, warmer Föhnwind begleitet den träge fließenden Strom. Er habe Dr. Schüller noch um ca. 19 Uhr gesehen, wird später ein Angestellter der implodierten Privatbank zu Protokoll geben. Dr. Schüller, so der Angestellte – sein Name war Rudolf Szabo – weiter, hätte den Gastgarten eines Lokales nahe der Bahnstation Kritzendorf betreten, den Gruß des dort zufällig weilenden Szabo nur flüchtig erwidert, danach die Restauration unvermittelt wieder verlassen und sich zum Strandbad entfernt. Ein weiterer Zeuge wird die ermittelnden Behörden überdies auf einen Schuss aufmerksam machen, der um etwa 20 Uhr am Donauufer abgegeben worden sei. Besagter Zeuge habe dem jedoch keine Bedeutung beigemessen, da sich in in dieser Gegend schließlich auch mehrere Jagdreviere befänden.

In der Staatsoper senkt sich der Vorhang. Die Sopranistin Margit Schenker-Angerer, eben noch als Dorota in Schwanda, der Dudelsackpfeifer vom Auditorium beklatscht, begibt sich in ihre Garderobe. Jaromir Weinbergers neues Musiktheater hatte einige Monate zuvor seine … WEITERLESEN.

Die Ungarische Textilindustrie Aktiengesellschaft, 1911

Peter Lorre, Casablanca
Lajos Löwensteins Sohn: Peter Lorre, hier an der Seite von Humphrey Bogart in Casablanca.

Wie mögen sie sich wohl abgespielt haben, die gemeinsamen Sitzungen von Lajos (auch: Ludwig) Löwenstein, dem korrekten Oberbuchhalter, und Julius Jolesch, dem energischen Generaldirektor? Wurde ausschließlich über Zahlen gesprochen? Erlaubten sich die beiden Herren gelegentlich einen Scherz? Löwenstein, ab 1917 mit seiner Familie ansässig in der Böcklinstraße 88, Vater des später weltberühmten Schauspielers Peter Lorre (1904–1964), und Jolesch, dessen Gattin es angeblich war, die dank Friedrich Torberg in die Wiener Literaturgeschichte einging[1], hatten rund um 1911 jedenfalls durchaus viel zu besprechen: Sie mussten sich – aufopfernd? – um das Wohlergehen der Ungarischen Textilindustrie Aktiengesellschaft kümmern, einem riesigen Unternehmen, dessen Zentrale in Rózsahegy (heute Ružomberok, Slowakei) angesiedelt war.

Ungarische Textilindustrie-Aktiengesellschaft, 1911

Mehr über diese Firma und ihren Gründer Isidor Mautner zu erzählen, würde hier allerdings den Rahmen sprengen. Daher soll diesbezüglich auf Wolfgang Hafers Biografie Die anderen Mautners. Das Schicksal einer jüdischen Unternehmerfamilie (Hentrich & Hentrich; Berlin, 2014) verwiesen werden.

Vorerst nämlich interessiert die Zusammensetzung der Direktion, wie sie sich 1911 präsentierte[2]. Hier finden wir zwei Herren, die uns schon bald wieder begegnen werden: den ungarischen Großindustriellen Josef von Hatvany-Deutsch nämlich sowie den Wiener Juristen … WEITERLESEN.

Almas Tagebuch – Buchtipp zu Franz Kafkas Wiener Verwandtschaft, Teil 1

Als kurze Anmerkung zum letzten Blogpost noch ein Buchtipp:

Alma Mahler-Werfel. Tagebuch-Suiten 1898–1902 (Hrsg. Antony Beaumont und Susanne Rode-Breymann; S. Fischer Verlag, 1997)

Hier finden sich unzählige Einträge zum Wiener Großindustriellen Eduard Lanner (Julie Kafkas Cousin, Richard Lanners Onkel) und dessen Familie.

Franz Kafkas Wiener Verwandtschaft: Richard Lanner, Rustenschacherallee 30 (1906–1923), Teil 1

»Der Vater war in Humpoletz geboren, arbeitete als Tuchmacher und heiratete meine Mutter, die das Haus in Podebrad so auch das Geschäft als Mitgift erhielt. Der Vater hatte vier Brüder und eine Schwester. Die Brüder waren reiche Leute, sie hatten einige Tuchfabriken, hießen anstatt Löwy Lanner und waren getauft, der jüngste Neffe des Vaters war der Besitzer des Brauhauses in Koschier. Er war getauft und hieß auch anstatt Löwy Lanner. Er starb im sechsundfünfzigsten Lebensjahr.«
(Julie Kafka, geb. Löwy, Mutter von Franz Kafka, ca. 1931)[1]

sidonie lanner_1907
Regelmäßiger Gast im Wiener Salonblatt: Sidonie Lanner, deren Mann Alexander Julie Kafkas Cousin war und das Brauhaus in Košíř (Prag) besaß.

Ist es nicht verblüffend? Ausgerechnet eine Adels- und Society-Postille liefert wertvolle Informationen zu Franz Kafkas in Wien ansässiger Verwandtschaft – wer hätte das gedacht? Im Wiener Salonblatt nämlich wurde am 29. Juni 1912 ein kurzer Nekrolog publiziert, der einem angesehenen Mitglied der hiesigen Gesellschaft gewidmet war: »Am 20. d. M. nachts verstarb hier im Sanatorium Löw der Großindustrielle Herr Eduard Lanner im 64. Lebensjahre. Er war Präsident der Puch-Aktiengesellschaft und des Verbandes der Automobil-Industriellen und er erfreute sich in großindustriellen Kreisen reicher Wertschätzung. […] Herr Eduard Lanner war der Bruder des … WEITERLESEN.