Der legendäre Freimaurer: Eugen Lennhoff, Böcklinstraße 53 (1921–1934)

1968 veröffentlicht der US-amerikanische Schriftsteller John Irving den Roman Setting Free the Bears. Die deutschsprachige Übersetzung erfolgt 1985 unter dem Titel Laßt die Bären los!. Wir lesen:

»Lennhoff«, sagt der Chauffeur. »Und er hatte es eilig.«
»Inzwischen hätten Sie einen Cognac trinken können«, sagt der Ober.
»Chefredakteur Lennhoff?« sagt Zahn.
»Vom Telegraph«, sagt der Chauffeur und wischt seinen eigenen Atem von der Scheibe – schielt Hilkes Ausschnitt hinunter.
»Lennhoff ist der beste«, sagt Zahn.
»Er schreibt klipp und klar«, sagt der Chauffeur.
»Er riskiert auch was«, sagt der Ober.1

Folgende These: John Irving hat (auf wessen Empfehlung?) The Last Five Hours of Austria intensiv studiert. Das Buch, eine Reportage über den »Anschluss«, war von Eugen Lennhoff 1938, kurz nach seiner abenteuerlichen Flucht aus Wien, im Londoner Exil verfasst worden. Als Autor einer den zeithistorischen Kontext beschreibenden Einführung sekundierte ihm Paul Frischauer, Schriftsteller und Mitglied von bekannten Wiener Zeitungsverleger- und Journalistenfamilien (Klebinder bzw. Frischauer); er war schon 1934 emigriert. Zudem taucht Lennhoff, wenngleich nur kurz erwähnt, auch in Irvings Roman Eine Mittelgewichtsehe auf. Und immer ist es der berühmte Wiener Journalist, der erbitterte Nazi-Gegner, für den sich der amerikanische Schriftsteller interessiert.

Doch Eugen Lennhoff, der 1891 in Basel als Sohn eines jüdischen Bankiers geboren wurde – die Familie hieß ursprünglich übrigens Löwy – und viele Jahre im Pratercottage wohnte, er führte ein Leben, das von zwei biografischen Strängen bestimmt wurde: Er war auch ein hochrangiger Freimaurer.

Josef Carl Löwenberg in der Österreichischen Illustrierten Zeitung, 18. Jänner 1903, Heft 16, S. 328 (online auf Anno)

Diesbezügliche Notizen: Im Jahr 1920 wird Lennhoff in die Grenzloge Zukunft aufgenommen. Sein Bürge war Josef Carl Löwenberg, Generaldirektor der österreichischen Niederlassung der New York-Versicherung, ein Mann mit interessantem familiären Umfeld: Wir begegnen hier dem renommierten Rechtswissenschaftler und Universitätsprofessor Josef Hupka; wir begegnen hier der viel zu früh verstorbenen Irene Hatschek, Gattin des erfolgreichen Architekten Arnold Hatschek (er hatte unter anderem die Villa Rustenschacherallee 28 entworfen), und wir begegnen hier vor allem auch dem in Prag ansässigen Arnold Weissberger (gest. 1913): Es war Weissbergers Empfehlung gewesen, die Franz Kafka 1907 zu seinem Job bei der Generali-Versicherung (Assicurazioni Generali) verholfen hatte.2

Josef Carl Löwenberg und Arnold Weissberger Seite an Seite: Exzerpt der Parte des Anwalts Dr. Ludwig Hupka. In: Neue Freie Presse (Abendblatt), 3. August 1898, S. 4 (online auf Anno)

Parallel zu diesem biografisch bedeutsamen, von Josef Carl Löwenberg unterstützten Schritt – und nach wie vor befinden wir uns im Jahr 1920 – verlobt sich Eugen Lennhoff, der »bekannte Publizist« (Quelle: Wiener Sonn- und Montagszeitung) und Redakteur des im Steyrermühl-Konzern beheimateten Neuen Wiener Tagblattes, mit Gertrud Dubsky, Tochter des Mediziners Dr. Eduard Dubsky.

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Franz Kafkas Wiener Verwandtschaft: Richard Lanner, Rustenschacherallee 30 (1906–1923), Teil 2

Villa Lanner (später Heriot), 1907
Kurz nach der Fertigstellung: Die von Richard und Berta Lanner erbaute Villa in der Rustenschacherallee 30. Später wohnten darin Peter Habig, Ernst Lanners Schwager, sowie der französische Warenhauserbe Auguste-Olympe Hériot und seine Ehefrau Hilda (ab 1946 die Gattin von Louis Rothschild). Im Hintergrund links zu erkennen: Die geschichtsträchtige Villa Rustenschacherallee 28.

Prolog

»Nein, um Gottes Willen, ich bin noch nicht verlobt!«, schrieb Thomas Mann im Juni 1904 hektisch nach Wien. Die dramatische Post erging an Richard Schaukal, Ministerialbeamter, Schriftsteller und Schwiegersohn des enorm wohlhabenden mährischen Hutfabrikanten Johann Hückel (Neutitschein/Nový Jičín). Noch musste sich der offenbar sehr interessierte Schaukal einige Monate gedulden, bis schließlich Anfang Oktober die erlösende Frohbotschaft aus Bayern eintraf: Thomas Mann informierte den von ihm sehr geschätzten Korrespondenzpartner offiziell über seine Verlobung mit Katia Pringsheim. Das glückliche Paar hatte sich durch die gemeinsame Bekannte Elsa Bernstein, Münchner Schriftstellerin und Salonnière, kennen gelernt. Elsas Vater Heinrich Porges, bekanntlich ein enger Mitarbeiter Richard Wagners, wurde in diesem Blog ja schon prominent erwähnt: Als, wir erinnern uns, Schwager von Ottilie Hirschl-Porges-Natter, die im Pratercottage aufgewachsen und viele Jahre ansässig war [1].

Im selben Jahr, 1904 also, las Franz Kafka in Prag erneut Thomas Manns Novelle Tonio Kröger. Ein Brief gibt darüber Auskunft, adressiert an seinen Freund Max Brod. Brod, der seinerseits schon bald mit Richard Schaukal korrespondieren wird.

Am 20. Oktober 1904 trat zudem Ernst Lanner vor den Traualtar [2]. Sein Vater Ludwig, ein kulturinteressierter Industrieller, der in unmittelbarer Nachbarschaft von Kunsthistorischem Museum und Hofburg residierte (Babenbergerstraße 9, 1010 Wien), hieß ursprünglich Löwy. 1887 hatte er, wohl um antisemitischen Anwürfen zu entgehen, seinen Namen ändern lassen [3] – Ludwig Löwy/Lanner also, der Cousin von Julie, Franz Kafkas Mutter, und auch der Bruder von Alexander und Eduard Lanner, die in Teil I dieser kleinen Serie ihren Auftritt hatten. Ernst nun, Ludwigs Sohn, vermählte sich mit einer jungen Dame, die mit Stolz einen international angesehenen Namen trug: (Adelheid) Paula Habig entstammte einer berühmten Wiener Hutmacherdynastie, die man natürlich auch in Prag bestens kannte. Habig-Hüte wurden etwa von der auf internationale Herrenhüte spezialisierten Firma C. Krise in der Zeltnergasse (Celetná), und somit unweit der Kafkas, verkauft [4]. Ob Richard Schaukal, Thomas Manns »Brieffreund«, wohl als Gast an dieser Hochzeit teilnahm? Ja, vielleicht, denn – Überraschung! – die Hückels und Habigs waren seit 1903 ebenfalls verschwägert [5].

Wir sehen uns hier also mit einem komplex geknüpften, für manche vermutlich durchaus verwirrend anmutenden Familiengeflecht konfrontiert, in dem sich überdies auch Richard Lanner, der Bruder des glücklichen Bräutigams, wieder findet, ebenso seine Gattin Berta, geb. Hassreiter.

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Franz Kafkas Wiener Verwandtschaft: Richard Lanner, Rustenschacherallee 30 (1906–1923), Teil 1

»Der Vater war in Humpoletz geboren, arbeitete als Tuchmacher und heiratete meine Mutter, die das Haus in Podebrad so auch das Geschäft als Mitgift erhielt. Der Vater hatte vier Brüder und eine Schwester. Die Brüder waren reiche Leute, sie hatten einige Tuchfabriken, hießen anstatt Löwy Lanner und waren getauft, der jüngste Neffe des Vaters war der Besitzer des Brauhauses in Koschier. Er war getauft und hieß auch anstatt Löwy Lanner. Er starb im sechsundfünfzigsten Lebensjahr.«
(Julie Kafka, geb. Löwy, Mutter von Franz Kafka, ca. 1931)[1]

sidonie lanner_1907
Regelmäßiger Gast im Wiener Salonblatt: Sidonie Lanner, deren Mann Alexander Julie Kafkas Cousin war und das Brauhaus in Košíř (Prag) besaß.

Ist es nicht verblüffend? Ausgerechnet eine Adels- und Society-Postille liefert wertvolle Informationen zu Franz Kafkas in Wien ansässiger Verwandtschaft – wer hätte das gedacht? Im Wiener Salonblatt nämlich wurde am 29. Juni 1912 ein kurzer Nekrolog publiziert, der einem angesehenen Mitglied der hiesigen Gesellschaft gewidmet war: »Am 20. d. M. nachts verstarb hier im Sanatorium Löw der Großindustrielle Herr Eduard Lanner im 64. Lebensjahre. Er war Präsident der Puch-Aktiengesellschaft und des Verbandes der Automobil-Industriellen und er erfreute sich in großindustriellen Kreisen reicher Wertschätzung. […] Herr Eduard Lanner war der Bruder des vor einigen Jahren verstorbenen Brauereibesitzers in Košíř bei Prag Herrn Alexander Lanner, dessen Gattin Frau Sidonie Lanner, Herrin auf Láz, allseits bestens bekannt ist.«

eduard lanner-parte_1912
Ottilie Lanner gibt Nachricht vom Ableben ihres Gatten Eduard, Julie Kafkas Cousin. In: Neue Freie Presse, 22. Juni 1912 (online auf ANNO).

Nicht nur ist es erstaunlich, mit dem Großindustriellen Eduard Lanner einen in Wien sehr einflussreichen Cousin von Julie Kafka, Franz Kafkas Mutter, zu entdecken. Auch Sidonie Lanners regelmäßige Präsenz im Wiener Salonblatt darf als bemerkenswert bezeichnet werden; so wurde etwa das obige Foto ebenfalls dieser Zeitschrift entnommen. Das Lanner’sche Brauhaus in Košíř hingegen ist Kafka-Experten natürlich ein Begriff. Dort, in der Buchhaltung, arbeitete Rudolf Löwy, Julies unverheirateter Stiefbruder, der »Narr« der Familie (siehe Franz Kafkas Tagebucheintrag am 23. Dezember 1911), ein Mann, dessen Persönlichkeit den schriftstellernden Neffen enorm beschäftigte und zu quälender Introspektion veranlasste [2].

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