Franz Kafkas Wiener Verwandtschaft: Richard Lanner, Rustenschacherallee 30 (1906–1923), Teil 1

»Der Vater war in Humpoletz geboren, arbeitete als Tuchmacher und heiratete meine Mutter, die das Haus in Podebrad so auch das Geschäft als Mitgift erhielt. Der Vater hatte vier Brüder und eine Schwester. Die Brüder waren reiche Leute, sie hatten einige Tuchfabriken, hießen anstatt Löwy Lanner und waren getauft, der jüngste Neffe des Vaters war der Besitzer des Brauhauses in Koschier. Er war getauft und hieß auch anstatt Löwy Lanner. Er starb im sechsundfünfzigsten Lebensjahr.«
(Julie Kafka, geb. Löwy, Mutter von Franz Kafka, ca. 1931)[1]

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Regelmäßiger Gast im Wiener Salonblatt: Sidonie Lanner, deren Mann Alexander Julie Kafkas Cousin war und das Brauhaus in Košíř (Prag) besaß.

Ist es nicht verblüffend? Ausgerechnet eine Adels- und Society-Postille liefert wertvolle Informationen zu Franz Kafkas in Wien ansässiger Verwandtschaft – wer hätte das gedacht? Im Wiener Salonblatt nämlich wurde am 29. Juni 1912 ein kurzer Nekrolog publiziert, der einem angesehenen Mitglied der hiesigen Gesellschaft gewidmet war: »Am 20. d. M. nachts verstarb hier im Sanatorium Löw der Großindustrielle Herr Eduard Lanner im 64. Lebensjahre. Er war Präsident der Puch-Aktiengesellschaft und des Verbandes der Automobil-Industriellen und er erfreute sich in großindustriellen Kreisen reicher Wertschätzung. […] Herr Eduard Lanner war der Bruder des vor einigen Jahren verstorbenen Brauereibesitzers in Košíř bei Prag Herrn Alexander Lanner, dessen Gattin Frau Sidonie Lanner, Herrin auf Láz, allseits bestens bekannt ist.«

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Ottilie Lanner gibt Nachricht vom Ableben ihres Gatten Eduard, Julie Kafkas Cousin. In: Neue Freie Presse, 22. Juni 1912 (online auf ANNO).

Nicht nur ist es erstaunlich, mit dem Großindustriellen Eduard Lanner einen in Wien sehr einflussreichen Cousin von Julie Kafka, Franz Kafkas Mutter, zu entdecken. Auch Sidonie Lanners regelmäßige Präsenz im Wiener Salonblatt darf als bemerkenswert bezeichnet werden; so wurde etwa das obige Foto ebenfalls dieser Zeitschrift entnommen. Das Lanner’sche Brauhaus in Košíř hingegen ist Kafka-Experten natürlich ein Begriff. Dort, in der Buchhaltung, arbeitete Rudolf Löwy, Julies unverheirateter Stiefbruder, der »Narr« der Familie (siehe Franz Kafkas Tagebucheintrag am 23. Dezember 1911), ein Mann, dessen Persönlichkeit den schriftstellernden Neffen enorm beschäftigte und zu quälender Introspektion veranlasste [2].

Eben diese Brauerei befand sich übrigens schon seit 1879 im Besitz von Mitgliedern der Familie Lanner. Diese hießen damals allerdings noch Löwy, und dem Erwerb der Brauerei war ein Aufsehen erregender Gerichtsprozess vorangegangen:

Prager Tagblatt, 22. Juli 1879 (online auf ANNO)

Prozess gegen Gottlieb Reitler & Jonas Libitzky (bzw. Libicky). Anlass: Verschuldete Krida. Zur Sprache kommt das Brauhaus Nr. 18 in Košíř und die Malzfabrik in Smichow. »Herr Ed. Löwy, der schärfste Belastungszeuge, hat von Karlsbad aus an den Gerichtshof ein Schreiben gerichtet […] Hr. Reitler bezeichnet diese Angaben als gehässig und unwahr. Hr. Löwy habe öffentlich im Kaffeehause geprahlt, er werde dem Reitler tüchtig einheizen.«

Prager Tagblatt, 24. September 1879 (online auf ANNO)

»Die Brauerei der Herren Reitler und Libicky in Koschir [sic] wurde gestern bei der exekutiven Feilbietung beim k.k. Bezirksgerichte zu Smichow um 96.004 Gulden erstiegen. Die Ersteher waren die Herren A. Löwy, Privatier in Teltsch, L. Löwy, Tuchfabrikant in Teltsch, Dr. Ad. Löwy, Advokat in Wien, David Weill, Fessfabrikant (Anm.: Fezfabrikant) in Strakonitz und Ed. Löwy, Tuchfabrikant in Teltsch.«

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Franz Kafkas Wiener Verwandtschaft, u. a. mit Eduard Lanners Witwe Ottilie und dem in der Rustenschacherallee 30 ansässigen Richard Lanner. In: High-Life-Almanach. Adreßbuch der Gesellschaft Wiens und der österreichischen Kronländer (Carl Konegen Verlag; Wien, 1913).

Einige Jahre später änderten besagte Löwys ihre Namen. Es handelte sich bei ihnen allerdings nicht, wie die damals schon greise Julie Kafka ca. 1931 fälschlich schrieb, um die Brüder ihres Vaters Jakob. Nein, es waren seine Neffen. Mehr dazu im nächsten Blogbeitrag. Und was die Löwys/Lanners mit der Wiener Hofoper sowie mit Teltsch (Telč), dem wunderschönen tschechischen Städtchen, dessen historischer Kern zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt, verband – nun, davon wird hier ebenfalls bald berichtet werden.

Fortsetzung folgt.

[1] In: Alena Wagnerová: »Im Hauptquartier des Lärms«. Die Familie Kafka aus Prag (Bollmann Verlag, 1997)

[2] Zu Franz Kafkas Beschäftigung mit seinem Onkel Rudolf Löwy (1861–1921), der im Lanner’schen Brauhaus in Košíř (nun: Košíře, Prag) als Buchhalter arbeitete (Quelle u. a. Hartmut Binder: Kafkas Welt. Eine Lebenschronik in Bildern. Rowohlt, 2008), siehe

Franz Kafka: Tagebuch, 23. Dezember 1911
»Kommt beim Anblick meiner ganzen Lebensweise, die in eine allen Verwandten und Bekannten fremde falsche Richtung führt, die Befürchtung auf und wird sie von meinem Vater ausgesprochen, dass aus mir ein zweiter Onkel Rudolf, also der Narr der neuen nachwachsenden Familie, der für die Bedürfnisse einer andern Zeit etwas abgeänderte Narr werden wird, dann werde ich von jetzt ab fühlen können, wie in der Mutter, deren Widerspruch gegen solche Meinung im Laufe der Jahre immer kleiner wird, alles sich sammelt und stärkt, was für mich und was gegen Onkel Rudolf spricht und wie ein Keil zwischen die Vorstellungen von uns beiden fährt.«

Franz Kafka: Brief an Robert Klopstock, Oktober 1921
»In früheren Jahren pflegte mein Vater, wenn ich irgendeine scheinbare Dummheit, in Wirklichkeit aber die Folgerung aus einem Grundfehler machte, zu sagen: ›Der ganze Rudolf!‹, womit er mich mit einem für ihn äußerst lächerlichen Stiefbruder meiner Mutter verglich, einem unenträtselbaren, überfreundlichen, überbescheidenen, einsamen und dabei fast geschwätzigen Menschen. Im Grunde hatte ich kaum etwas Gemeinsames mit ihm, außer dem Beurteiler. Aber die quälende Wiederholung des Vergleiches, die fast körperliche Schwierigkeit, einem Weg, an den man früher gar nicht dachte, nun um jeden Preis auszuweichen, und schließlich des Vaters Überzeugungskraft oder, wenn man will, seine Verfluchung, brachten es doch zustande, dass ich mich dem Onkel wenigstens näherte.«

Franz Kafka: Tagebuch, 22. Jänner 1922
»Die Ähnlichkeit mit O. R. (Onkel Rudolf, Anm.) ist aber noch darüber hinaus verblüffend: beide still (ich weniger), beide von den Eltern abhängig (ich mehr), mit dem Vater verfeindet, von der Mutter geliebt (er noch zu dem schrecklichen Zusammenleben mit dem Vater verurteilt, freilich auch der Vater verurteilt), beide schüchtern, überbescheiden (er mehr), beide als edle gute Menschen angesehn, wovon bei mir nichts und meines Wissens auch bei ihm nicht viel zu finden war (Schüchternheit, Bescheidenheit, Ängstlichkeit gilt als edel und gut, weil sie den eigenen expansiven Trieben wenig Widerstand entgegensetzt), beide zuerst hypochondrisch, dann wirklich krank, beide als Nichtstuer von der Welt ziemlich gut erhalten (er, weil er ein kleinerer Nichtstuer war, viel schlechter erhalten, soweit man bis jetzt vergleichen kann), beide Beamte (er ein besserer), beide allereinförmigst lebend, ohne Entwicklung jung bis zum Ende, richtiger als jung ist der Ausdruck konserviert, beide nahe am Irrsinn, er, fern von Juden, mit ungeheurem Mut, mit ungeheurer Sprungkraft (an der man die Größe der Irrsinnsgefahr ermessen kann), in der Kirche gerettet, bis zum Ende noch, soweit man sehen konnte, lose gehalten, er selbst hielt sich wohl schon Jahre lang nicht. Ein Unterschied zu seinen Gunsten oder Ungunsten war, dass er eine kleinere künstlerische Begabung hatte als ich, also in der Jugend einen bessern Weg hätte wählen können, nicht so zerrissen war, auch durch Ehrgeiz nicht. Ob er um Frauen (mit sich) gekämpft hat, weiß ich nicht, eine Geschichte, die ich von ihm gelesen habe, deutete daraufhin, auch erzählte man, als ich ein Kind war, etwas dergleichen. Ich weiß viel zuwenig von ihm, danach zu fragen wage ich nicht. Übrigens schrieb ich bis hierher leichtsinnig über ihn wie über einen Lebenden. Es ist auch unwahr, dass er nicht gut war, ich habe an ihm keine Spur von Geiz, Neid, Hass, Gier bemerkt; um selbst helfen zu können, war er wahrscheinlich zu gering. Er war unendlich viel unschuldiger als ich, hier gibt es keinen Vergleich. Er war in Einzelheiten eine Karikatur von mir, im wesentlichen aber bin ich seine Karikatur.«

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