Am Rennplatz in Proskurow: Josef Graf Gizycki, Schüttelstraße ca. 7–9 (ehemals 11; ca. 1912–1926), Teil 3

1907, am neuen Rennplatz im damals russischen Proskurow (heute: Chmelnyzkyj/Ukraine), ca.  75 km von der einstigen österreichischen Grenze Podwołoczyska (heute: Pidwolotschysk/Ukraine) entfernt: Der amtierende Präsident des Rennvereins Josef Gizycki mit seinem vermutlich besten Freund, dem Grafen Józef Potocki, Sohn des Politikers und über einen riesigen Grundbesitz verfügenden Alfred Potocki (1822, Łańcut–1889, Paris) – er  wirkte etwa 1870 bis 1871 als Ministerpräsident Cisleithaniens (der österreichischen Reichshälfte in Österreich-Ungarn) und 1875 bis 1883 als Statthalter des österreichischen Kronlandes Galizien – und der ebenfalls aus dem polnischen Hochadel stammenden Maria Klementyna Sanguszko.
Józef Potocki war ein Cousin der im Pratercottage ansässigen Brüder Aloys und Heinrich von Liechtenstein. Er bewohnte mit seiner Gattin Helena (Tochter von Anton von Radziwiłł und der in Berlin als Salonnière politisch angeblich einflussreichen französisch-polnischen Aristokratin Marie de Castellane) ein von seiner Mutter vererbtes, vom Wiener Architekturbüro Fellner & Helmer neobarock gestaltetes Schloss im ebenfalls russischen Antoniny (mehr dazu: https://www.bbc.com/ukrainian/blog-history-49167866), in der Nähe von Gizyckis Anwesen in Novosielica also. Gizycki selbst hatte damals (1907) noch keinen Wohnsitz am Schüttel.

Der Artikel zu obiger Fotografie erschien in Sport & Salon am 31. August 1907 unter dem Titel Ein neuer russischer Rennplatz (Text S. 12, online auf ANNO; Foto S. 13, online auf ANNO).

Nachfolgendes Inserat, das auch auf den Jockey-Club im Philipphof (Augustinerstraße 8, 1010 Wien) verweist,  wurde zudem am 28. Juni 1908 in der Allgemeinen Sport-Zeitung veröffentlicht (S. 806, online auf ANNO).  Gizycki war hier schon seit 1888 dabei und hatte später, wie man etwa im Jahrbuch des Jockey Club für Oesterreich 1903  nachlesen kann, den Ehrenrang eines »lebenslänglichen Mitglieds« inne.

Zwei Bücher und eine Entführung: Josef Graf Gizycki, Schüttelstraße ca. 7–9 (ehemals 11; ca. 1912–1926), Teil 2

Wie aus einem Film von Erich von Stroheim: Josef Gizycki (Sport & Salon, 6. Dezember 1900)

Er könnte einem Film von Erich von Stroheim entsprungen sein: Charmant, intelligent, gebildet, charismatisch, hedonistisch, skrupellos, amoralisch, zynisch, narzisstisch – all diese Zuschreibungen lassen sich auf den mehrere Jahre, bis zu seinem Tod, im Pratercottage ansässigen Grafen Josef Gizycki (1867–1926) anwenden. Der polnische Aristokrat und Sohn der Komponistin Ludmilla Gizycka-Zamoyska (1829–1889) war eine bekannte Erscheinung am Wiener Parkett, ein ideenreicher Protagonist des Jockey-Clubs, ein Mitbegründer(1) des ersten österreichischen Reit- und Poloklubs(2), und selbst im Verwaltungsrat der Hotel Imperial Aktiengesellschaft ist sein Name zu finden. Für die ambivalenten Erinnerungen an den rastlosen Herrenreiter und Gutsbesitzer sorgen Bücher aus Großbritannien und den USA, die zwei sehr unterschiedliche Frauen porträtieren: Etti Plesch (geb. Maria Anna Gräfin von Wurmbrand-Stuppach), die aus Wien stammende Tochter von Mary Vetseras Cousine May Baltazzi und wahrscheinlich ein uneheliches Kind des  – freundlich formuliert – polyamourösen Grafen, sowie Eleanor »Cissy« Patterson, seine prominente US-amerikanische Exgattin, die Gizycki verlassen hatte und sich danach mit ihm einen hasserfüllten Scheidungskrieg lieferte. Der transatlantische Kampf um die gemeinsame Tochter Felicia, die Gizycki in einer filmreifen Aktion sogar entführt hatte, wurde unter Beteiligung von US-Präsident William Howard Taft und dem russischen Zaren Nikolaus II. ausgetragen und am 4. April 1999 von der New York Times (Felicia G. Magruder, Ex-Countess, Dies at 93; eine Abschrift findet sich aktuell zudem in Felicia Gizycka Magruders Profil auf Geni.com) sowie am 17. Mai 1999 vom britischen Independent (Obituary: Countess Felicia Gizycka) erneut thematisiert. In der Folge wird hier nun auf die beiden Bücher, die spezifische Aspekte in Gizyckis Leben vor seinem Umzug in die Schüttelstraße beleuchten, näher eingegangen. (mehr …)

Das Ende eines exzessiven Lebens: Josef Graf Gizycki, Schüttelstraße ca. 7–9 (ehemals 11; ca. 1912–1926), Teil 1

In den kommenden Wochen werden hier Texte über den mehrere Jahre in der Schüttelstraße ansässigen Grafen Josef Gizycki (polnisch: Józef Giżycki h. Gozdawa) erscheinen. Nachfolgend eine behördliche Information über sein Ableben (Wiener Zeitung, 16. Mai 1926, S. 12, online auf ANNO):

Der Verkauf der Entreprise des pompes funèbres an die Stadt Wien (1907)

Im Jahr 1907 wird die Entreprise des pompes funèbres – sie war, wie in diesem Blog schon erwähnt, 1868 von dem im Pratercottage ansässigen niederländischen Generalkonsul Owen Maurits Roberts van Son erworben  und danach in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden – an die Stadt Wien verkauft.  Treibende Kraft von Seiten des Verkäufers: Owen Maurits Roberts van Son, der dem Verwaltungsrat des Bestattungsunternehmens vorstand.

Dazu war in der Wiener Tageszeitung Die Zeit am 15. Februar 1907, Seite 4, unter dem Titel Verstadtlichung der Leichenbestattung Folgendes zu lesen (online auf ANNO):

»Vorgestern wurde nun der Vertrag unterzeichnet, wonach beide Unternehmungen, vorbehaltlich der Zustimmung des Stadtrates und des Gemeinderates, an der wohl kaum zu zweifeln ist, am 1. April d. J. mit ihrem ganzen Fundus und ihrem Kundenkreis in das Eigentum der Gemeinde Wien übergehen, und zwar die Concordia um den Preis von 650.000 Kronen und die Entreprise um jenen von 1,700.000 Kronen. […| (mehr …)

Meldezettel Jenny Adler-Herzmark und Max Adler, Schüttelstraße 15a (heute Schüttelstraße 13; 1909)

(Quelle: WStLA, Historische Meldeunterlagen, K11: Adler Max, 15.1.1873; CC BY-NC-ND 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de)

Jenny Adler-Herzmark und Max Adler im Wien Geschichte Wiki:
https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Jenny_Adler
https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Max_Adler_(Soziologe)

Werksalbum der Witkowitzer Bergbau- und Eisenhütten-Gewerkschaft (ca. 1904)

Das Volkskundemuseum Wien stellte kürzlich ein um 1904 entstandenes Werksalbum der Witkowitzer Bergbau- und Eisenhütten-Gewerkschaft als Digitalisat online. Die faszinierende Publikation enthält 35 Heliogravüren und präsentiert sowohl Außen- als auch Innenansichten der riesigen und hier in diesem Blog schon mehrfach erwähnten Eisenwerke in Witkowitz/Vítkovice.

Link zum Digitalisat: www.volkskundemuseum.at/publikationen/publikation?publikation_id=1555220542167

Der Philanthropische Verein. Simon Steingraber, Böcklinstraße 45 (ca. 1914/15–1923)

Im Alten Jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs: Die Gräber von Emil Horner und Simon Steingraber; letzteres mit leider nicht mehr intaktem Grabstein. (Fotos: Eva Maria Mandl, 2017)

Emil Horner (1854–1910) war Prokurist bei S. M. v. Rothschild. Er wohnte in der Praterstraße 47 (siehe auch Lehmanns Adressbuch 1910; das Haus existiert nicht mehr). Er wurde als »herzensguter Mensch« beschrieben.

Simon Steingraber (1845–1923) war Prokurist bei den Gebrüdern Gutmann. Er wohnte unter anderem in der Mayerhofgasse 12 (damals ebenso übrigens wie auch Alexander Girardi, der Gustav Picks Fiakerlied so genial interpretierte) und in der Wohllebengasse 5. In Lehmanns Adressbuch 1915 wird schließlich erstmals die Villa Böcklinstraße 45 als seine Wohnadresse angegeben (in der neuen Nachbarschaft residierten auch mehrere Verwandte). Er wurde als »Menschenfreund von seltener Herzensgüte« beschrieben.

Lehmanns Adressbuch 1907: Simon Steingraber und Alexander Girardi wohnten beide im Haus Mayerhofgasse 12, 1040 Wien.
Lehmanns Adressbuch 1915: Simon Steingraber wohnt in der Villa Böcklinstraße 45 (die Straße hieß damals noch Valeriestraße). In diesem Haus lebte als Steingrabers Nachbar auch der renommierte Fotograf Hermann Clemens Kosel.

Diese liebevollen Charakterisierungen dürften wohl zutreffend sein. Horner und Steingraber nämlich zählten zu den maßgeblichen Persönlichkeiten der bedeutenden Wiener Wohltätigkeitsorganisation Philanthropischer Verein (1879–1938); ihr engagiertes Wirken sollte diese beiden Männer sicherlich für immer in der Wiener Sozialgeschichte etablieren. Das karitative Duo traf seine Entscheidungen, die in hunderttausenden Fällen Hilfe leistete, namens seiner Arbeitgeber, der Häuser Rothschild und Gutmann, den wichtigsten Financiers des Philanthropischen Vereins.  Die Gutmanns ehrten das Andenken an Simon Steingraber – der mit der berühmten Industriellendynastie vermutlich auch entfernt verwandt war – nach dessen Ableben dementsprechend mit einer ganz besonderen Geste: Er habe sich »mit rührender Selbstlosigkeit in den Dienst der Gesamtheit« gestellt, konnte man im Neuen Wiener Journal am 22. Februar 1923 lesen. Und weiter: »Auf humanitärem Gebiete hat er dauernde Werte geschaffen. Nichts könnte für ihn bezeichnender sein als der Umstand, dass er 31 Jahre hindurch keine einzige Sitzung des Philanthropischen Vereins, dem er vorstand, versäumt hatte. Um das Gedenken an die selbstlose, edle Persönlichkeit Steingrabers würdig zum Ausdruck zu bringen, wurde von dem Inhaber der Firma Guttmann [sic!], der er sechs Jahrzehnte als Beamter angehörte, eine nach dem Verblichenen benannte Stiftung errichtet und dem Philanthropischen Verein übergeben.«

Das einstige, 1912 eröffnete Heim für obdachlose Familien in der Wiesberggasse 13, 1160 Wien. Architekt des Gebäudes war Ernst von Gotthilf (Foto: Thomas Ledl; Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 4.0).

Steinerne Zeugen für das Wirken des Vereins findet man heute in der Brigittenau und in Ottakring. Hier, in der Universumstraße 62 bzw. in der Wiesberggasse 13 (bis Mai 1913: Herbststraße 141), stehen zwei bemerkenswerte, mit Rohziegeln verkleidete Gebäude, die durch eine Initiative der Wohltätigkeitsorganisation – und angesichts der drückenden Wohnungsnot – in den Jahren 1902 und 1912 als rettende Asyle für obdachlose Familien errichtet wurden. Um für diese konkrete Bautätigkeit die Kräfte zu bündeln und Spenden aufzutreiben, hatte der Philanthropische Verein 1899 einen Unterverein ins Leben gerufen, den Verein Heim für obdachlose Familien.

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