Das Volkskundemuseum Wien stellte kürzlich ein um 1904 entstandenes Werksalbum der Witkowitzer Bergbau- und Eisenhütten-Gewerkschaft als Digitalisat online. Die faszinierende Publikation enthält 35 Heliogravüren und präsentiert sowohl Außen- als auch Innenansichten der riesigen und hier in diesem Blog schon mehrfach erwähnten Eisenwerke in Witkowitz/Vítkovice.
Im Alten Jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs: Die Gräber von Emil Horner und Simon Steingraber; letzteres mit leider nicht mehr intaktem Grabstein. (Fotos: Eva Maria Mandl, 2017)
Emil Horner (1854–1910) war Prokurist bei S. M. v. Rothschild. Er wohnte in der Praterstraße 47 (siehe auch Lehmanns Adressbuch 1910; das Haus existiert nicht mehr). Er wurde als »herzensguter Mensch« beschrieben.
Simon Steingraber (1845–1923) war Prokurist bei den Gebrüdern Gutmann. Er wohnte unter anderem in der Mayerhofgasse 12 (damals ebenso übrigens wie auch Alexander Girardi, der Gustav PicksFiakerlied so genial interpretierte) und in der Wohllebengasse 5. In Lehmanns Adressbuch 1915 wird schließlich erstmals die Villa Böcklinstraße 45 als seine Wohnadresse angegeben (in der neuen Nachbarschaft residierten auch mehrere Verwandte). Er wurde als »Menschenfreund von seltener Herzensgüte« beschrieben.
Lehmanns Adressbuch 1907: Simon Steingraber und Alexander Girardi wohnten beide im Haus Mayerhofgasse 12, 1040 Wien.
Lehmanns Adressbuch 1915: Simon Steingraber wohnt in der Villa Böcklinstraße 45 (die Straße hieß damals noch Valeriestraße). In diesem Haus lebte als Steingrabers Nachbar auch der renommierte Fotograf Hermann Clemens Kosel.
Diese liebevollen Charakterisierungen dürften wohl zutreffend sein. Horner und Steingraber nämlich zählten zu den maßgeblichen Persönlichkeiten der bedeutenden Wiener Wohltätigkeitsorganisation Philanthropischer Verein (1879–1938); ihr engagiertes Wirken sollte diese beiden Männer sicherlich für immer in der Wiener Sozialgeschichte etablieren. Das karitative Duo traf seine Entscheidungen, die in hunderttausenden Fällen Hilfe leistete, namens seiner Arbeitgeber, der Häuser Rothschild und Gutmann, den wichtigsten Financiers des Philanthropischen Vereins. Die Gutmanns ehrten das Andenken an Simon Steingraber – der mit der berühmten Industriellendynastie vermutlich auch entfernt verwandt war – nach dessen Ableben dementsprechend mit einer ganz besonderen Geste: Er habe sich »mit rührender Selbstlosigkeit in den Dienst der Gesamtheit« gestellt, konnte man im Neuen Wiener Journal am 22. Februar 1923 lesen. Und weiter: »Auf humanitärem Gebiete hat er dauernde Werte geschaffen. Nichts könnte für ihn bezeichnender sein als der Umstand, dass er 31 Jahre hindurch keine einzige Sitzung des Philanthropischen Vereins, dem er vorstand, versäumt hatte. Um das Gedenken an die selbstlose, edle Persönlichkeit Steingrabers würdig zum Ausdruck zu bringen, wurde von dem Inhaber der Firma Guttmann [sic!], der er sechs Jahrzehnte als Beamter angehörte, eine nach dem Verblichenen benannte Stiftung errichtet und dem Philanthropischen Verein übergeben.«
Das einstige, 1912 eröffnete Heim für obdachlose Familien in der Wiesberggasse 13, 1160 Wien. Architekt des Gebäudes war Ernst von Gotthilf (Foto: Thomas Ledl; Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 4.0).
Steinerne Zeugen für das Wirken des Vereins findet man heute in der Brigittenau und in Ottakring. Hier, in der Universumstraße 62 bzw. in der Wiesberggasse 13 (bis Mai 1913: Herbststraße 141), stehen zwei bemerkenswerte, mit Rohziegeln verkleidete Gebäude, die durch eine Initiative der Wohltätigkeitsorganisation – und angesichts der drückenden Wohnungsnot – in den Jahren 1902 und 1912 als rettende Asyle für obdachlose Familien errichtet wurden. Um für diese konkrete Bautätigkeit die Kräfte zu bündeln und Spenden aufzutreiben, hatte der Philanthropische Verein 1899 einen Unterverein ins Leben gerufen, den Verein Heim für obdachlose Familien.
Oderberg: Gigantische Bahnhofsanlage, Ölraffinerie, Chemieindustrie, rauchende Fabrikschlote. In unmittelbarer Nähe: Die riesigen Witkowitzer Eisenwerke, wo tausende Menschen an glühenden Hochöfen ihren Lebensunterhalt erarbeiten. Und auch, nur 8 km entfernt: Das zwischen Klassizismus und Neorenaissance pendelnde Schloss Schillersdorf (Zámek Šilheřovice), Mitte der 1840er Jahre von Salomon von Rothschild erworben und nun im Besitz seines Wiener Urenkels Alfons (Alphonse), Schillersdorf, ein beliebter Treffpunkt der k.u.k. Society, seit Jahrzehnten berühmt vor allem durch seine Jagdgesellschaften. Ebenfalls im näheren Umkreis zu finden: Schloss Beneschau (Dolní Benešov), das Anwesen von Louis von Rothschild – er ist, im Gegensatz zu seinem Bruder, auch mit den geschäftlichen Belangen von Witkowitz befasst.
Victor Lustig kennt das alles; folgerichtig war er daher auch Teil jener schillernden Runde, die sich 1911 im Wiener Palais Rothschild versammelte, um Albert, dem verstorbenen Patriarchen, die letzte Ehre zu erweisen. Lustig wirkte als Bürgermeister von Oderberg (Bohumín), diesem für die ausgedehnten Industriegebiete in Mähren und Schlesien so wichtigen Verkehrsknotenpunkt – die Stadt wurde schon 1847 an das Netz der Kaiser Ferdinands-Nordbahn angeschlossen. Es gibt hier, wie im fernen Wien, einen Naschmarkt und auch eine Ringstraße. Im Jahr 1900 wurde, endlich, eine eindrucksvolle Synagoge eröffnet, entworfen[1] von Jakob Gartner, einem angesehenen, auf jüdische Gebetsstätten spezialisierten Architekten. Über eben diesen Synagogenbau in Oderberg weiß Lustig natürlich viel zu erzählen: Er war ja, wie, unter stürmischen Akklamationen, bei der Einweihung betont wurde, maßgeblich dafür verantwortlich.
Darf man also von erfüllten Jahren sprechen, die der Ex-Politiker sowie ehemalige Kultusvorstand von Oderberg – und auch hoch geschätzte Ehrenbürger von Ostrau! – hinter sich hat? Ja, man darf. Seit 1889[2] verheiratet mit Malvine und mehrfacher Vater, übersiedelte Lustig schließlich rund um 1911[3] ins Pratercottage. Nun lebt er mit seiner Familie in einer jener Villen, die der unglückliche Oskar Marmorek in die Böcklinstraße gestellt hat. Im Nebenhaus übrigens wohnt, nicht unpraktisch, Malvines Bruder: Es ist Sigmund Epler, der im Zionismus engagierte Manager und Gefolgsmann von Theodor Herzl. Und mit wem ist das aus Brünn stammenden Geschwisterduo Epler via Bruder Max, auch er ein Manager, verschwägert? Mit Gabriele, der Schwester von Stefanie Adams; letztere war mit Wilhelm, dem Bruder des Großindustriellen Hans Emil von Gutmann (Rustenschacherallee 40, danach 28), verheiratet gewesen und steuert nun als Ehefrau des viel beschäftigten Malers John Quincy Adams durch die Wiener Gesellschaft. (Ein weiteres Mitglied der Familie, die Tänzerin und Designerin Ruth Sobotka, geb. 1925 in Wien, wird Jahrzehnte später den aufstrebenden Filmregisseur Stanley Kubrick heiraten. Aber dies ist eine andere Geschichte.)
Steinkohlengrube in Jaworzno. Zeichnung von Hugo Charlemont (Kronprinzenwerk, Band: Galizien, 1898)
Im Wiener Straßennetz finden sich einige ganz großartige Namen (1010, Stoß im Himmel, z.B., oder 1140, Grüne Stube). Vor wenigen Jahren gesellte sich nun auch 1020, An den Kohlenrutschen hinzu. Der so liebevoll betitelte Verkehrsweg im noch jungen Stadtentwicklungsgebiet Nordbahnhof mündet in die ebenfalls neu geschaffene Krakauer Straße. Fürwahr eine interessante topografische Festschreibung, die zu einem Blick zurück verleitet:
Die Presse, 18. Februar 1869 »Seit einigen Wochen sind hier Gerüchte verbreitet, die Nordbahngesellschaft beabsichtige das große Kohlenbergwerk Jaworzno käuflich an sich zu bringen. Bis jetzt haben diese Gerüchte wenig Wahrscheinlichkeit an sich; aber schon die bloße Anregung des Gedankens erregt in industriellen Kreisen Besorgnis über die Großmachtstellung der Nordbahn im Kohlenrayon Krakaus, da die Nordbahn ohnehin das bedeutende Kohlenbergwerk Pechnik bei Jaworzno besitzt. Man befürchtet nämlich – ich weiss nicht, ob mit Recht – die Nordbahn werde durch den Ankauf Jaworznos gewissermaßen Monopolistin im Kohlenrayon Krakaus werden.«
Neues Fremden-Blatt, 15. Mai 1871 »Die Verhandlungen wegen des Verkaufes des ärarischen Kohlenwerkes Jaworzno haben zu einem definitiven Resultate geführt. Das Werk ist bereits an ein aus den Bankiers Springer, Schoeller, Gebrüder Gutmann bestehendes Konsortium verkauft worden. Als Kaufpreis nennt man uns ca. 2,1 Millionen Gulden. Ob die Ersteher ihre Erwerbung für die Zeichnung einer Aktiengesellschaft verwerten werden, steht noch nicht fest.«
Die von Salomon Rothschild begründete Kaiser-Ferdinands-Nordbahn, Urmutter der ÖBB, angesiedelt im prächtigen Nordbahnhof, sie ging also leer aus. Hauptaktionär der Nordbahn war nach wie vor das Haus Rothschild, mit dem die Gebrüder Gutmann interessanterweise schon damals, seit 1865 nämlich, in Geschäftsbeziehungen standen (ab 1869 hatte überdies die intensive Zusammenarbeit betreffend die später so riesigen Eisenwerke in Witkowitz/Vitkovice begonnen). Ebenfalls 1865 hatten die Gutmanns zudem in Breslau gemeinsam mit der schlesischen Firma C. T. Löbbecke die Georg- und Morgenstern-Grube erworben und dabei auch den späteren Freund Max von Springer beteiligt. Doch nun waren die neuen Besitzer der Jaworznoer Kohlengruben unzufrieden. In seinem nicht nur für Bergbau-Experten interessanten Erinnerungsband Aus meinem Leben (1891) beklagt Wilhelm von Gutmann den hohen Kaufpreis, den »verwahrlosten Zustand der Anlage« und die »geringe Qualität der Kohle, welche eine Verfrachtung auf weitere Entfernung nicht lohnend erscheinen ließ«. Die Häuser Springer, Gutmann, Schoeller und Todesco (auf letzteres wurde in oben zitiertem Artikel vergessen) machten sich also ans Werk, modernisierten die Anlage und errichteten »verschiedene humanitäre Anstalten« (Gutmann) für die Arbeiter, deren Zahl im Jahr 1891 auf 1.400 angewachsen war.
[Anmerkung: Ob der Wiener Fotograf Franz Löwy, dessen Arbeiten die heimischen Lifestyle-Zeitschriften vor dem »Anschluss« in erheblichem Maße prägten, eine nähere Beziehung zum Pratercottage hatte – ich weiß es nicht. Wiewohl: Ja, er war vermutlich mit Emil Mayer gut bekannt. Dieser Artikel jedenfalls entstand im Bemühen, ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen, da zu Löwys Dependance in Paris sowie zu seinem Schicksal nach 1938 bis dato kaum Informationen auffindbar waren.]
Ein Text über 16, Place Vendôme könnte durchaus um Henry Miller kreisen. In diesem Fall hätten wir ein nobles Pariser Gebäude, angesiedelt an einem der teuersten Plätze der Seine-Metropole, sowie einen in der Montparnasse-Bohème verankerten US-Schriftsteller – und dennoch würde besagte Abhandlung auch nach Wien führen. Wir könnten, falls wir an komplizierten biographischen Querverweisen interessiert wären, sogar den wilden William S. Burroughs ins Spiel bringen, ebenso Nabokov mit seiner Lolita. Wir könnten Seite um Seite füllen mit ambitionierten Analysen zu erotischer Belletristik im 20. Jahrhundert, zur Geschichte ausufernder Literaturskandale, zu umstrittenen Verlegern, empörten Journalisten und erfreuten Lesern. Kurz: Wir könnten uns mit Jack Kahanes Obelisk Press auseinandersetzen (und, siehe Burroughs, Nabokov etc., zudem als Sidestep mit der Olympia Press seines Sohnes Maurice Girodias), einem Verlag, dessen Räumlichkeiten sich in den 1930er Jahren in 16, Place Vendôme befanden. Hier wurde 1934 Henry Millers Wendekreis des Krebses publiziert, jener in mehreren Ländern sogleich verbotene Roman, in dem Miller seinen engen Freund Alfred Perles, einen Wiener, erstmals literarisch verewigte.
Wer niemals in Witkowitz gewesen ist, kann nicht ermessen, welchen gigantischen Umfang diese Unternehmung besitzt. Sie umfasst eine ganze Stadt, die größer als beispielsweise Znaim ist und die tief in das Weichbild Mährisch-Ostraus ihre eisernen Arme hinüberstreckt. Aus: Das Mammutwerk Witkowitz (Die moderne Welt, Heft 6, 1924. Online auf anno)
Aus mysteriösen Gründen sind die riesigen Witkowitzer Eisenwerke, die sich bis zu ihrer »Arisierung« im Besitz der Wiener Familien Rothschild und Gutmann (siehe Text zu Rositta Gutmann, Rustenschacherallee/Böcklinstraße) befanden, in Österreichs kollektivem Gedächtnis kaum präsent. Zu Unrecht: Einst war diese mährische Unternehmung von großer wirtschaftlicher Bedeutung – sowohl für die Donaumonarchie als auch für die 1. Republik – und beschäftigte zeitweise mehr als 30.000 Menschen. Selbst die Geschichte der heimischen Bahn wäre ohne Witkowitz/Vitkovice, das, so der Plan in den Pioniertagen der nunmehrigen ÖBB, mittels rascher und leistungsfähiger Lokomotiven an Wien angeschlossen werden sollte, anders verlaufen. Die tschechische Nationalbibliothek hat im Zuge ihres Digitalisierungsprojekts nun zwei Foto-Broschüren der Eisenwerke online gestellt. Die erste stammt aus dem Jahr 1914, als Heinrich Wiedmann (ca. 1843-1916), der viele Jahre erfolgreich als Prokurist die Agenden der Gebrüder Gutmann vertrat, gemeinsam mit seiner Familie die Villa in der Böcklinstraße 35 bewohnte (seine Witwe wird auch nach seinem Tod dort ansässig bleiben). Die zweite, hier in kleinem Maßstab abgebildete, wurde 1928 publiziert und präsentiert, ähnlich wie schon das Büchlein aus 1914, neben den einzelnen Aspekten der Eisenproduktion auch mehrere dem Werk angeschlossene Arbeiter-Wohnhäuser, Ambulanzen und Erholungsheime sowie eine Schule und ein Waisenhaus. Eine Dekade später, nach dem »Anschluss« 1938, wurde Louis Rothschild unter anderem auch eben dieser Eisenwerke wegen – ihre Besitzanteile sollten den Familien Rothschild und Gutmann abgepresst werden – von der Gestapo am Wiener Morzinplatz ein Jahr in Haft gehalten.
Kühle Grandezza, umflort von Melancholie: Rositta Gutmann in der deutschen Vogue vom April 1929. Foto: Edith Barakovich.
Ende der 1920er Jahre wagte der renommierte US-Verlag Condé Nast ein Experiment: Sein Style-Flaggschiff, die Modezeitschrift Vogue, sollte nun auch in einer deutschen Ausgabe erscheinen. Die Redaktion wurde, wenig überraschend, im pulsierenden Berlin angesiedelt und das erste Magazin im April 1928 auf den Markt gebracht. Exakt ein Jahr später, am 10. April 1929, erschien man mit einem Heft, das schwerpunktmäßig neuen Autos und cooler Hutmode gewidmet war. Dem entsprechend zeigte auch Pierre Morgues Coverillustration eine sehr selbstbewusste Frau am Steuer. Dies bildete also den Rahmen für obiges Portrait von Rositta Gutmann, das auf Seite 8 zu finden ist. Geschaffen wurde es von Edith Barakovich (geb. 1896 in Zemun, damals ein Grenzort der Donaumonarchie, heute ein Stadtbezirk von Belgrad), jener jungen talentierten Wiener Fotografin, die gemeinsam u. a. mit Trude Fleischmann und ihrer Lehrmeisterin Dora Kallmus (Madame d’Ora) die traditionell männliche Szene der heimischen Lichtbildner seit längerem heftig durcheinander wirbelte. Barakovich, deren Atelier sich in Wien 4, Prinz-Eugen-Straße 30 befand, muss diese Veröffentlichung jedenfalls zu ihren Karrierehöhepunkten gezählt haben – für die Vogue (deren dt. Version Teile der US-Ausgabe übernahm) fotografierten bekanntlich internationale Stars wie Edward Steichen und George Hoyningen-Huené.
Wie lange sich die Fotografin und ihr Modell kannten, ist unklar. Durchforstet man Zeitschriften der 1920 Jahre (Moderne Welt, Frisierkunst der Mode, etc.), so findet man etwa eine Aufnahme, die Barakovich um 1927 von Anna Lucia und Maria Habig angefertigt hat, den Nichten von Hans Emil Gutmann, Rosittas Ehemann. Es sind Fotografien, die von einer Welt erzählen, die zertrümmert werden würde: Zehn Jahre, nachdem das Porträt in der Vogue erschien, lebten beide Frauen nicht mehr in Wien. Edith Barakovich war mit ihrem Gatten, dem Drehbuchautor Paul Frank, 1938 nach Frankreich emigriert und wird 1940 in Marokko, einer weiteren Fluchtstation, Selbstmord begehen. Rositta Gutmann, Mitglied einer der berühmtesten jüdischen Familien Mitteleuropas, wohnte seit Februar 1938 in Genf. Sie sollte nicht mehr in die Rustenschacherallee zurückkehren.
Blick auf die Jesuitenwiese
Es war eine Straße, die sie schon seit langem kannte. 1912, noch vor dem 1. Weltkrieg, hatte sich Rositta Ungar-Wiener (man beachte den Doppelnamen!) in ihrem an der Jesuitenwiese gelegenen Haus Rustenschacherallee 40 angesiedelt. Drei Jahre später heiratete sie, die 1882 im galizischen Tarnopol als Tochter von Saul und Regina Wiener geboren wurde, in zweiter Ehe Hans Emil Ritter von Gutmann, neun Jahre jünger, Enkel von David Ritter von Gutmann, einer der »Kohlenbarone« also, wie die Gutmanns in Wien genannt wurden.
Das wirtschaftlich erfolgreichste Brüderpaar der Donaumonarchie: Wilhelm (1826-1895) und David Ritter von Gutmann (1834-1912).
Es würde hier zu weit führen, die gesamten wirtschaftlichen Aktivitäten dieser sehr reichen, sehr mächtigen Familie aufzulisten (sie umfassten Bergbau ebenso wie Bankgeschäfte), erwähnt werden soll allerdings das soziale Engagement: Die Gutmanns unterstützten nicht nur Rudolfinerhaus und Poliklinik mit hohen Beträgen, sondern wirkten auch, gemeinsam mit der ihr eng verbundenen Familie Rothschild, mittels Spenden (an die Kaiser-Franz-Joseph-I.-Jubiläumsstiftung für Volkswohnungen und Wohlfahrtseinrichtungen) an der Errichtung des damals hochmodernen, 1905 eröffneten Männerwohnheims in der Brigittenauer Meldemannstraße mit. Dass jener Mann, der später an der Spitze des NS-Terrorregimes stand, ausgerechnet dort von 1910-1913 wohnte (Details dazu sind nachzulesen in Brigitte Hamanns Hitlers Wien), mutet angesichts der Nazi-Gewalt, die über das Pratercottage niederbrach, besonders trist an: nicht nur lebten in der Rustenschacherallee mehrere Mitglieder der Familie, sondern in der (heute stark veränderten) Villa Böcklinstraße 35 überdies auch Bertha Wiedmann, eine Nichte von David und Wilhelm von Gutmann, und ihr Gatte Heinrich, der Prokurist des Konzerns Gebrüder Gutmann (die beiden waren übrigens Großeltern von Grete Tugendhat).