Ende der 1920er Jahre wagte der renommierte US-Verlag Condé Nast ein Experiment: Sein Style-Flaggschiff, die Modezeitschrift Vogue, sollte nun auch in einer deutschen Ausgabe erscheinen. Die Redaktion wurde, wenig überraschend, im pulsierenden Berlin angesiedelt und das erste Magazin im April 1928 auf den Markt gebracht. Exakt ein Jahr später, am 10. April 1929, erschien man mit einem Heft, das schwerpunktmäßig neuen Autos und cooler Hutmode gewidmet war. Dem entsprechend zeigte auch Pierre Morgues Coverillustration eine sehr selbstbewusste Frau am Steuer. Dies bildete also den Rahmen für obiges Portrait von Rositta Gutmann, das auf Seite 8 zu finden ist. Geschaffen wurde es von Edith Barakovich (geb. 1896 in Zemun, damals ein Grenzort der Donaumonarchie, heute ein Stadtbezirk von Belgrad), jener jungen talentierten Wiener Fotografin, die gemeinsam u. a. mit Trude Fleischmann und ihrer Lehrmeisterin Dora Kallmus (Madame d’Ora) die traditionell männliche Szene der heimischen Lichtbildner seit längerem heftig durcheinander wirbelte. Barakovich, deren Atelier sich in Wien 4, Prinz-Eugen-Straße 30 befand, muss diese Veröffentlichung jedenfalls zu ihren Karrierehöhepunkten gezählt haben – für die Vogue (deren dt. Version Teile der US-Ausgabe übernahm) fotografierten bekanntlich internationale Stars wie Edward Steichen und George Hoyningen-Huené.
Wie lange sich die Fotografin und ihr Modell kannten, ist unklar. Durchforstet man Zeitschriften der 1920 Jahre (Moderne Welt, Frisierkunst der Mode, etc.), so findet man etwa eine Aufnahme, die Barakovich um 1927 von Anna Lucia und Maria Habig angefertigt hat, den Nichten von Hans Emil Gutmann, Rosittas Ehemann. Es sind Fotografien, die von einer Welt erzählen, die zertrümmert werden würde: Zehn Jahre, nachdem das Porträt in der Vogue erschien, lebten beide Frauen nicht mehr in Wien. Edith Barakovich war mit ihrem Gatten, dem Drehbuchautor Paul Frank, 1938 nach Frankreich emigriert und wird 1940 in Marokko, einer weiteren Fluchtstation, Selbstmord begehen. Rositta Gutmann, Mitglied einer der berühmtesten jüdischen Familien Mitteleuropas, wohnte seit Februar 1938 in Genf. Sie sollte nicht mehr in die Rustenschacherallee zurückkehren.
Blick auf die Jesuitenwiese
Es war eine Straße, die sie schon seit langem kannte. 1912, noch vor dem 1. Weltkrieg, hatte sich Rositta Ungar-Wiener (man beachte den Doppelnamen!) in ihrem an der Jesuitenwiese gelegenen Haus Rustenschacherallee 40 angesiedelt. Drei Jahre später heiratete sie, die 1882 im galizischen Tarnopol als Tochter von Saul und Regina Wiener geboren wurde, in zweiter Ehe Hans Emil Ritter von Gutmann, neun Jahre jünger, Enkel von David Ritter von Gutmann, einer der »Kohlenbarone« also, wie die Gutmanns in Wien genannt wurden.
Es würde hier zu weit führen, die gesamten wirtschaftlichen Aktivitäten dieser sehr reichen, sehr mächtigen Familie aufzulisten (sie umfassten Bergbau ebenso wie Bankgeschäfte), erwähnt werden soll allerdings das soziale Engagement: Die Gutmanns unterstützten nicht nur Rudolfinerhaus und Poliklinik mit hohen Beträgen, sondern wirkten auch, gemeinsam mit der ihr eng verbundenen Familie Rothschild, mittels Spenden (an die Kaiser-Franz-Joseph-I.-Jubiläumsstiftung für Volkswohnungen und Wohlfahrtseinrichtungen) an der Errichtung des damals hochmodernen, 1905 eröffneten Männerwohnheims in der Brigittenauer Meldemannstraße mit. Dass jener Mann, der später an der Spitze des NS-Terrorregimes stand, ausgerechnet dort von 1910-1913 wohnte (Details dazu sind nachzulesen in Brigitte Hamanns Hitlers Wien), mutet angesichts der Nazi-Gewalt, die über das Pratercottage niederbrach, besonders trist an: nicht nur lebten in der Rustenschacherallee mehrere Mitglieder der Familie, sondern in der (heute stark veränderten) Villa Böcklinstraße 35 überdies auch Bertha Wiedmann, eine Nichte von David und Wilhelm von Gutmann, und ihr Gatte Heinrich, der Prokurist des Konzerns Gebrüder Gutmann (die beiden waren übrigens Großeltern von Grete Tugendhat).
Wiedmann verstarb 1916, seine Witwe Bertha (lt. Kaufvertrag von 1900 Hälfteeigentümerin) blieb weiterhin im einst gemeinsamen Refugium ansässig. Nur wenige hundert Meter davon entfernt änderten sich allerdings die Eigentumsverhältnisse: Im selben Jahr erwarb Rositta Gutmann – Gatte Hans Emil war mittlerweile in ihr Haus übersiedelt – die unbebauten Grundstücke Rustenschacherallee 32-36 bzw. Böcklinstraße 55. Zehn Jahre später erhielt zudem ihr Ehegespons nach einer Exektionsverhandlung den Zuschlag für die Villa Rustenschacherallee 28, nachdem deren Besitzer Siegfried Neuhöfer – ein klassisches Spekulantenschicksal der Ersten Republik – mit teils kriminellen Malversionen in Wöllersdorf gescheitert war (ins Grundbuch eingetragen wurde der Eigentümerwechsel 1934). Nun, Mitte der 1920er Jahre, verband sich mit diesem Paar also ein erheblicher Teil des Häuserblocks zwischen Wittelsbachstraße und Friedensgasse.
Die lieben Nachbarn und Louis Rothschild
Zu diesem Zeitpunkt war Hans Emil Gutmann – er wird als warmherzig und karitativ tätig beschrieben – schon Gesellschafter der familieneigenen Unternehmen (Bank und Konzern), gemeinsam mit seinem Verwandten Rudolf Gutmann, dem renommierten, später von den Nazis beraubten Kunstsammler vom Beethovenplatz 3, der in Edmund de Waals internationalem Überraschungserfolg Der Hase mit den Bernsteinaugen als enger Freund der Ephrussis so prominent erwähnt wird. Bis zu seinem frühen Ableben im Jahr 1937 (siehe Todesanzeige in der Neuen Freien Presse) wird er somit auch Miteigentümer der im mährischen Ostrau gelegenen Witkowitzer Eisenwerke sein, die sich im Besitz der Gutmanns und Rothschilds befinden. Ebenfalls daran beteiligt ist daher auch der kultivierte und sehr charmante Louis Rothschild.
Er, über den man sich eine sorgfältig recherchierte Biographie wünschen würde, war vielleicht die zentrale Figur der österreichischen Wirtschaft während der Ersten Republik. Im Mai 1931 hatte Rothschild als Hauptaktionär und Präsident der Creditanstalt die von seiner Familie gegründete Bank durch die schwerste Krise ihrer Geschichte zu führen, einer Krise, die auch durch bedenkliche Polit-Entscheidungen ausgelöst wurde (Stichwort: Bodencreditanstalt, 1929). Sie löste heftige Eruptionen in der europäischen Wirtschaft aus und veranlasst heute Experten wie Paul Krugman oder Nouriel Roubini, beklemmende Analogien zum aktuellen Geschehen zu ziehen. In diesen dramatischen Zeiten bekam das nun im Haus Rustenschacherallee 28 logierende Ehepaar Gutmann (Telefonnummer: R-43-3-58) neue Nachbarn: Peter Habig, der mit Hans Emils Schwester Anna verheiratet gewesen war, hatte Nr. 30 an Auguste Hériot verkauft. Wann Louis Rothschild dessen offenbar ziemlich bemerkenswerte Gattin Hilda (geb. Auersperg) näher kennen lernte, ist nicht verbürgt – 1946 jedenfalls, als sich beide nicht mehr in Österreich befinden (Rothschild war von den Nazis ein Jahr inhaftiert und seines österreichischen Besitzes beraubt worden, Hilda Hériot hatte sich scheiden lassen), heiraten sie, der Geschäftspartner der Gutmanns und deren schöne Nachbarin.
Altmünster und die Herrscher in Bayreuth
»Schau’n Sie, jetzt werde ich Ihnen einmal erklären, was sexy Musik ist: Richard Wagner – Tristan und Isolde. Das ist sexy Musik.« erklärte Marcel Prawy 1998 in einem nicht unamüsanten Interview. Warum dieses Zitat hier erwähnt wird? Nun, auch er, der legendäre Opernkritiker, findet sich im Stammbaum der Gutmanns wieder – seine Tante war mit Wilhelm Gutmann verheiratet, dem Bruder von Hans Emil. Diese besagte Tante war wohl auch vor Ort – und selbiges ist von den Pratercottage-Gutmanns anzunehmen -, als Ende Jänner 1922 ein großes Geburtstagsfest stattfand, das Grete, Hans Gutmanns Schwester, für ihren Gatten Otto Krause veranstaltete (die beiden wohnten im familieneigenen Palais Ecke Schwarzenbergplatz 11/Schwindgasse 2/Gußhausstraße 1, heute Sitz der EU-Agentur für Grundrechte).
Als Überraschungsgast geladen: Lotte Lehmann, das Aushängeschild der Wiener Staatsoper – sie sollte für den vierfachen Vater ein Ständchen singen. Dieses gut gemeinte Präsent entpuppte sich als fataler Fehler der liebenden Gattin, begann doch an jenem Abend eine Affäre zwischen dem Geburtstagskind und der Sopranistin. Die Ehe zwischen Grete (1893-1936) und Otto wird 1926 prompt geschieden, Lotte Lehmann, die einzigartige Wagner-Interpretin, und Otto Krause heiraten (und werden 1938 in die USA emigrieren). Für die perplexe Verwandtschaft der betrogenen Gemahlin blieb somit die Erkenntnis, dass die Wagnerschen Kompositionen in ihrem Leben eine sehr zentrale Rolle spielen: »Ihr Sommersitz ist Altmünster bei Gmunden, während das Ehepaar den Winter an der Riviera verbringt«, konnte man über Hans und Rositta in der Vogue lesen. Altmünster, damit war die Villa Traunblick gemeint, ein Anwesen, das sich seit 1918 im Besitz von Rositta Gutmann befand. Diese Villa war aber auch und vor allem Wohn- und Sterbehaus von Mathilde Wesendonck, Richard Wagners (platonischer?) Geliebten, und besitzt für Wagnerianer somit eine Bedeutung, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Tristan und Isolde, das sind bekanntlich Wagner und Wesendonck, wobei der von seinen Gefühlen gepeinigte Tondichter einen Umweg über die auf Mathildes Gedichten basierenden, von drängendem Verlangen geprägten Wesendonck-Lieder (1857/58) unternahm. »Alle Welt kennt die eminente Rolle, die diese Frau in seinem (Anm. Richard Wagners) Leben und Schaffen gespielt hat«, erklärte auch Winifred Wagner, die Schwiegertochter des Komponisten.
In den 1920er Jahren, zu jener Zeit also, als Rositta und Hans Gutmann die Sommermonate in der Wesendonck’schen Villa verbrachten und Lotte Lehmann mit ihren Wagner-Interpretationen, worunter sich auch häufig die Wesendonck-Lieder befanden, Jubelstürme entfesselte, präsentierte sich Bayreuths Haus Wahnfried nach wie vor geprägt vom virulent antisemitischen Gedankengebäude der auf Grund ihres hohen Alters nun schon physisch geschwächten Witwe Cosima. Von ähnlich zentraler Bedeutung war dort nur ihr eigener Schwiegersohn, Houston Stewart Chamberlain, ein Mann, dessen rassistische Schriften eine wesentliche Grundlage für die kruden Theoreme der Nationalsozialisten bildete. Die innige Freundschaft des Briten zu seiner politischen Seelenverwandten hatte übrigens eher harmlos begonnen, nach seiner ersten deutschsprachigen Veröffentlichung, die dem »Verhältnis von Sprache und Musik in Tristan und Isolde« gewidmet war (Allgemeine Musikzeitung, Berlin 1888). Für Chamberlain muss der Name Gutmann jedenfalls einen sehr vertrauten Klang gehabt haben: Von 1888-1908 hatte er in Wien gelebt, in der Mariahilfer Blümelgasse 1/4. Stock, und in der Donaumetropole nicht nur einen viel besuchten Salon geführt, sondern auch seinen aggressiven Wälzer Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts verfasst.
Die Enteignungen
Chamberlain, der »geistige Oberverwalter des Wagner’schen Erbes« (Rudolf Augstein) und seit Jahren an Bett und Rollstuhl gefesselt, starb 1927, Cosima Wagner 1930, ebenso wie ihr Sohn Siegfried. Nun übernahm dessen hyperaktive Witwe Winifred, seit 1923 eine enge Hitler-Freundin, die Leitung der Festspiele. Während die gebürtige Britin in Wahnfried Hof hielt, bekam ein Jahr nach dem »Anschluss« einer der höchsten Nazis Zugriff auf die Wesendonck-Gutmann-Villa: Wilhelm Ohnesorge, Reichspostminister von 1937-1945 sowie Freund des DAF-Leiters und langjährigen Bayreuth-Besuchers Robert Ley, nahm gemeinsam mit seiner Geliebten und künftigen Ehefrau, der 40 Jahre jüngeren Grazer Postbeamtin Auguste (Gusti) Videcnik, in Rosittas einstigem Sommerdomizil Quartier. Die rechtmäßige Eigentümerin hatte damals den Prater, die Rustenschacherallee, schon verlassen – Rositta Gutmann war am 2. Februar 1938 nach Genf gereist, um nicht mehr wiederzukehren.
Damals befand sich das Eckhaus Nr. 40 nicht mehr in ihrem Besitz: sie hatte es schon 1937 verkauft; auch die neue Eigentümerin Hedwig Goldberg musste 1938 emigrieren. Die Villa Nr. 28 wiederum – diese gehörte wie erwähnt dem 1937 verstorbenen Hans Gutmann – wurde vom NS-Studentenwerk nach einer Versteigerung übernommen und ging 1955 auf Grund des §1 Verbotsgesetz St. G. Bl. Nr. 13/45 in das Eigentum der Republik Österreich über. Die Grundstücke Rustenschacherallee 32-36 sowie Böcklinstraße 55, in der NS-Zeit ebenfalls dem Studentenwerk zugeschlagen, wurden in den 1950er Jahren an ihre ehemalige Besitzerin, nun verheiratete Oppenheim und wohnhaft in Genf, 158 Route de Florissant, zurückgestellt. In ihrem Antrag erwähnte Rositta Gutmann übrigens, dass sie nicht nur Eigentümerin des Gutes Traunblick »mit Villen, Wirtschaftsgebäuden, Gärtnereien, Wiesen und Wald auf einem Terrain von rund 100.000 m2, sondern auch des ungemein wertvollen Inventars der Villa Wien II., Rustenschacherallee 28, mit wertvollen Bildern, Möbeln, Schmuck und Kunstgegenständen« gewesen war.
Von dieser Villa ist nichts geblieben. Nur ein altes Foto in einer Architekturzeitschrift erinnert noch an sie, außerdem zwei Texte, einer von Erich Fried, der zweite von Barbara Coudenhove-Kalergi, die auf ihre Nachkriegsbewohner, den kommunistischen Intellektuellen Ernst Fischer und dessen Frau Lou, zuvor verheiratet mit Hanns Eisler, verweisen (siehe auch: »Ich bin kein Held, ich bin Komponist.« Hanns Eisler, Schüttelstraße 19a). Auf den einstigen Gutmann’schen Grundstücken im Pratercottage befinden sich nun schöne Wohnanlagen sowie, in der Böcklinstraße 55, die Mormonenkirche. Einzig die 1948 restituierte Villa Traunblick in Altmünster, Nachdemsee 1, existiert nach wie vor. Die Aussicht auf das ruhige, dunkle Gewässer des Traunsees, sie muss auch heute noch atemberaubend sein.
Edmund de Waal, Der Hase mit den Bernsteinaugen. Paul Zsolnay Verlag, 2011
Brigitte Hamann, Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth. Piper Verlag, 2002
Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1973/III, Die Vitkovicer Berg- und Eisenhütten-Gewerkschaft als Organisationszentrum der Reichswerke AG »Hermann Göring« für die Beherrschung der Eisen- und Stahlwirtschaft südosteuropäischer Länder. (pdf online via Universität Köln)
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