Der Starbiologe. Paul Kammerer, Schüttelstraße 29 (1907–1912)

Prolog

Als nachfolgende Zeilen, verfasst zu Jahresbeginn 1926 im oberösterreichischen Schloss Würting, schließlich in Druck gingen, weilte ihr Autor nicht mehr unter den Lebenden: Der international angesehene Biologe Paul Kammerer hatte sich, nachdem man ihn kurz zuvor einer Fälschung bezichtigte und damit ein enormer Wissenschaftskandal ausgelöst wurde, am 23. September 1926 erschossen.

»Gemeinsam waren wir zum Achten Internationalen Zoologenkongreß (1910) nach Graz gefahren. Beim Erwachen im Hotel sagte ich zu Przibram: ›Heute ist mein 30. Geburtstag!‹ – Worauf er: ›So werden Sie von jetzt an keine neuen Gedanken mehr haben! Alle selbstständigen Ideen werden vor dem 30. Jahre konzipiert; der Rest des Lebens dient dem Ausbau.‹«1

Paul Kammerer (1880–1926). Foto: Wikimedia Commons (George Grantham Bain Collection – Library of Congress).

Nicht einmal die Fahnenkorrektur jenes Buches, in dem diese persönlichen Erinnerungsschnipsel zu Hans Leo Przibram, dem Leiter der Biologischen Versuchsanstalt im Prater, einen prominenten Platz fanden, habe Kammerer vornehmen können, klagte Wilhelm (von) Gutmann (1889–1966), einer der engsten Freunde des lebensmüden Biologen und Hausherr des als Künstler- und Intellektuellenrefugium hoch geschätzten Schlosses Würting.2 Gutmann, dessen Bruder Hans – es wurde hier schon erwähnt – damals eine Villa in der Rustenschacherallee bewohnte, war auch Adressat eines Abschiedsbriefes von Paul Kammerer, der sich in Puchberg, am idyllischen Theresienfelsen, entleibt hatte.

Ein letztes Mal war er also durch Wälder und über Wiesen gewandert. Und dann: Der Schuss.

1907

Hier sind Blumen. So viele Blumen. Es ist eine sich fein ziseliert aus dem Mauerwerk erhebende Wiese, die man zu durchschreiten hat, sehr romantisch und wunderschön. Und wie geschaffen natürlich für den jungen Wiener Biologen, der den pflanzengesäumten Eingangsbereich seines neuen Wohnhauses am Donaukanal täglich passiert. Gemeinsam mit der ihm frisch angetrauten Gattin lebt er nun hier, am 31. Oktober erblickt das erste (und einzige Kind) der beiden das Licht der Welt. Ihr Vorname: Lacerta (die wissenschaftliche Bezeichnung für Eidechse). Zweiter Vorname: Maria. Lacerta Maria Kammerer also, Tochter des seit 1902 an der nahen Biologischen Versuchsanstalt (BVA) forschenden Paul Kammerer und der aus einem böhmischen Adelsgeschlecht entstammenden Baronesse (und offenbar begabten Sängerin) Felicitas Maria Theodora (kurz: Dora) von Wiedersperg.

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Der legendäre Freimaurer: Eugen Lennhoff, Böcklinstraße 53 (1921–1934)

1968 veröffentlicht der US-amerikanische Schriftsteller John Irving den Roman Setting Free the Bears. Die deutschsprachige Übersetzung erfolgt 1985 unter dem Titel Laßt die Bären los!. Wir lesen:

»Lennhoff«, sagt der Chauffeur. »Und er hatte es eilig.«
»Inzwischen hätten Sie einen Cognac trinken können«, sagt der Ober.
»Chefredakteur Lennhoff?« sagt Zahn.
»Vom Telegraph«, sagt der Chauffeur und wischt seinen eigenen Atem von der Scheibe – schielt Hilkes Ausschnitt hinunter.
»Lennhoff ist der beste«, sagt Zahn.
»Er schreibt klipp und klar«, sagt der Chauffeur.
»Er riskiert auch was«, sagt der Ober.1

Folgende These: John Irving hat (auf wessen Empfehlung?) The Last Five Hours of Austria intensiv studiert. Das Buch, eine Reportage über den »Anschluss«, war von Eugen Lennhoff 1938, kurz nach seiner abenteuerlichen Flucht aus Wien, im Londoner Exil verfasst worden. Als Autor einer den zeithistorischen Kontext beschreibenden Einführung sekundierte ihm Paul Frischauer, Schriftsteller und Mitglied von bekannten Wiener Zeitungsverleger- und Journalistenfamilien (Klebinder bzw. Frischauer); er war schon 1934 emigriert. Zudem taucht Lennhoff, wenngleich nur kurz erwähnt, auch in Irvings Roman Eine Mittelgewichtsehe auf. Und immer ist es der berühmte Wiener Journalist, der erbitterte Nazi-Gegner, für den sich der amerikanische Schriftsteller interessiert.

Doch Eugen Lennhoff, der 1891 in Basel als Sohn eines jüdischen Bankiers geboren wurde – die Familie hieß ursprünglich übrigens Löwy – und viele Jahre im Pratercottage wohnte, er führte ein Leben, das von zwei biografischen Strängen bestimmt wurde: Er war auch ein hochrangiger Freimaurer.

Josef Carl Löwenberg in der Österreichischen Illustrierten Zeitung, 18. Jänner 1903, Heft 16, S. 328 (online auf Anno)

Diesbezügliche Notizen: Im Jahr 1920 wird Lennhoff in die Grenzloge Zukunft aufgenommen. Sein Bürge war Josef Carl Löwenberg, Generaldirektor der österreichischen Niederlassung der New York-Versicherung, ein Mann mit interessantem familiären Umfeld: Wir begegnen hier dem renommierten Rechtswissenschaftler und Universitätsprofessor Josef Hupka; wir begegnen hier der viel zu früh verstorbenen Irene Hatschek, Gattin des erfolgreichen Architekten Arnold Hatschek (er hatte unter anderem die Villa Rustenschacherallee 28 entworfen), und wir begegnen hier vor allem auch dem in Prag ansässigen Arnold Weissberger (gest. 1913): Es war Weissbergers Empfehlung gewesen, die Franz Kafka 1907 zu seinem Job bei der Generali-Versicherung (Assicurazioni Generali) verholfen hatte.2

Josef Carl Löwenberg und Arnold Weissberger Seite an Seite: Exzerpt der Parte des Anwalts Dr. Ludwig Hupka. In: Neue Freie Presse (Abendblatt), 3. August 1898, S. 4 (online auf Anno)

Parallel zu diesem biografisch bedeutsamen, von Josef Carl Löwenberg unterstützten Schritt – und nach wie vor befinden wir uns im Jahr 1920 – verlobt sich Eugen Lennhoff, der »bekannte Publizist« (Quelle: Wiener Sonn- und Montagszeitung) und Redakteur des im Steyrermühl-Konzern beheimateten Neuen Wiener Tagblattes, mit Gertrud Dubsky, Tochter des Mediziners Dr. Eduard Dubsky.

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1921 und der Geist-Kreis: Emanuel Winternitz, Böcklinstraße 49, Teil II

1) Wien, Frühling 1921. In der Böcklinstraße 49, in einer schönen Mehrparteienvilla nahe der Jesuitenwiese, grübelte Emanuel Winternitz über Kant und Kelsen, über den Philosophen aus Königsberg und den Rechtswissenschaftler aus Wien. Letzterem war der angehende Jurist, auch als dessen Privatsekretär, eng verbunden. So wird er sich später (1923) etwa in die publizistische Schlacht werfen, um Hans Kelsen gegen dessen abtrünnigen Schüler Fritz Sander zu verteidigen1. Noch allerdings herrschte Ruhe an dieser Front, historisch Bedeutsames absorbierte die Aufmerksamkeit der Juristenzunft: Die österreichische Bundesverfassung war in Kraft getreten. Bei deren Entwurf war Winternitz mittendrin statt nur dabei:

»Die Erläuterungen zu dem Wehrgesetz hat, wie im dritten Teile, Herr Ministerialrat Dr. Georg Fröhlich gearbeitet.
Bei Durchführung der Korrekturen hat mich Herr cand. jur. Emanuel Winternitz unterstützt. Beiden Herren sage ich herzlichen Dank.
Wien, im September 1920.
Hans Kelsen.«
2

Emanuel, geb. 1898, vielseitig interessiert, hochgebildet und ohne jegliche Allüren, hatte das Sophiengymnasium in der Leopoldstädter Zirkusgasse besucht und war im 1. Weltkrieg als Soldat an der italienischen Front gewesen. Er logierte bei seinem Stiefvater (sein leiblicher Vater Paul hatte 1904 Selbstmord verübt): Adolf Kappelmacher entstammte einer sozialdemokratischen Familie und führte eine Anwaltskanzlei. Zu Adolfs Freunden zählte, so berichtet sein Stiefsohn später, auch Parteigründer Victor Adler (»My stepfather, an outstanding lawyer and liberal disciple and friend of the great Social Democrat, Victor Adler«).3

Exzerpt aus der philosophischen Zeitschrift Kant-Studien: Ab 1921 war Emanuel Winternitz Mitglied der Kant-Gesellschaft (online auf archive.org)
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Exkurs: Auf der Hohen Warte

Villa Auspitz, Hohe Warte, 1930
Thronend auf der Hohen Warte: Die Sommervilla des Wiener Bankiers und Kunstsammlers Stefan Auspitz, ca. 1930.

Als die Vorstellung an der Staatsoper ihrem Höhepunkt zustrebt, treibt der leblose Körper von Ludwig Schüller auf der dunklen Donau, vorbei an Klosterneuburg, langsam Richtung Wien. Es ist ein lauer Abend, der Samstag vor Pfingsten, warmer Föhnwind begleitet den träge fließenden Strom. Er habe Dr. Schüller noch um ca. 19 Uhr gesehen, wird später ein Angestellter der implodierten Privatbank zu Protokoll geben. Dr. Schüller, so der Angestellte – sein Name war Rudolf Szabo – weiter, hätte den Gastgarten eines Lokales nahe der Bahnstation Kritzendorf betreten, den Gruß des dort zufällig weilenden Szabo nur flüchtig erwidert, danach die Restauration unvermittelt wieder verlassen und sich zum Strandbad entfernt. Ein weiterer Zeuge wird die ermittelnden Behörden überdies auf einen Schuss aufmerksam machen, der um etwa 20 Uhr am Donauufer abgegeben worden sei. Besagter Zeuge habe dem jedoch keine Bedeutung beigemessen, da sich in in dieser Gegend schließlich auch mehrere Jagdreviere befänden.

In der Staatsoper senkt sich der Vorhang. Die Sopranistin Margit Schenker-Angerer, eben noch als Dorota in Schwanda, der Dudelsackpfeifer vom Auditorium beklatscht, begibt sich in ihre Garderobe. Jaromir Weinbergers neues Musiktheater hatte einige Monate zuvor seine Wiener Premiere erlebt, mit dem von Oskar Strnad entworfenen Bühnenbild, dem von Max Brod ins Deutsche übertragenen Libretto, der von Bronislava Nijinska entwickelten Choreographie. Die Produktion entpuppt sich als durchaus erfolgreich.

Ludwig Schüller
Selbstmord nach dem Bankencrash: Ludwig Schüller (1872–1931), der Kompagnon von Stefan (Stephan) Auspitz.

Es ist der 23. Mai 1931. Jener Tag, als sich offenbar das Gerücht verbreitete, der Bankier und Kunstsammler Stefan Auspitz-Artenegg habe bei der Wiener Salztorbrücke einen Selbstmordversuch unternommen. Jener Tag, als Auspitz‘ Kompagnon Ludwig Schüller um 11 Uhr das Büro verließ, nicht mehr in seine Wohnung zurückkehrte und bei Kritzendorf in den dunklen Wellen verschwand. Jener Tag, als diese beiden Gesellschafter des renommierten Bankhauses Auspitz, Lieben & Co. vor den Trümmern ihrer beruflichen Existenz standen [1]. Es waren waghalsige Spekulationen[2] an den internationalen Börsen, unter anderem durch eine Amsterdamer Zweigstelle, welche die neben dem Burgtheater, im Gründerzeit-Palais der berühmten Familien Auspitz und Lieben (Eingang Oppolzergasse 6), angesiedelte Finanzinstitution ins Trudeln gebracht hatten. Der ebenfalls im Mai 1931 erfolgte Zusammenbruch der riesigen Creditanstalt besiegelte schließlich auf dramatische Weise ihr Schicksal. »Er konnte den Bankrott der Firma, Verluste der Familie und der Freunde nicht ertragen«, erzählte Richard Schüller über seinen Bruder, den attraktiven, hochgewachsenen Ludwig, einen Juristen [3]. Gerty, Ludwigs verzweifelte Gattin, eine Tochter des 1909 verstorbenen, enorm reichen, enorm mächtigen Theodor Ritter von Taussig, dessen Boden-Credit-Anstalt einst die Wirtschaft der Donaumonarchie mitsteuerte, wird Tage später erfahren müssen, dass die sterblichen Überreste ihres Ehemannes in Ungarn aufgefunden wurden.

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Der Mann, der Yeats verjüngte. Eugen Steinach, Böcklinstraße 51, 53, 94 (1912-1938)

Eugen Steinach, 1861-1944

Who can know the year, my dear,
when an old man’s blood grows cold?
– W. B. Yeats,
The Wild Old Wicked Man, 1937

»Ich habe es machen lassen.« berichtete W. B. Yeats im Frühsommer 1934 begeistert einem erstaunten Dubliner Freund. Mit »es« spielte der damals 69-jährige Nobelpreisträger auf jene Operation an, die ihm, der mit dem Alterungsprozess nur schwer zurechtkam (»That is no country for old men« klagte er etwa 1928 in Sailing to Byzantinum), erneut erotische Höhenflüge ermöglichen sollte: Eine Vasektomie, ausgeführt durch den flamboyanten Sexologen Norman Haire in London. Als praktischer Nebeneffekt würde sich zudem der hohe Blutdruck des Dichters senken. Yeats war also, wenig überraschend, bester Dinge und ließ sich auch durch spitze Bemerkungen fehlinformierter Zeitgenossen nicht aus der Ruhe bringen: Das sei doch, als würde man einen Cadillac-Motor in einen Ford einbauen, witzelte etwa Schriftstellerkollege Frank O’Connor.

Doch tatsächlich hatte der notorische Womanizer Yeats, erstens, sich eben nicht, wie O’Connor vermutete, Affendrüsen transplantieren lassen (damals ebenfalls à la mode), und, zweitens, in jenen fünf Jahren zwischen dem oben geschilderten Eingriff und seinem Tod noch vier ernsthafte sexuelle Beziehungen. Eine der Frauen, die linke, mit dem Anarchismus sympathisierende Autorin Ethel Mannin, kleidete sich, auch in Absprache mit Norman Haire, bei den Tête-à-têtes gar besonders verführerisch, um Yeats wie auch sich selbst vom Erfolg der Operation zu überzeugen. Zufrieden schrieb der (im übrigen verheiratete) Ire also 1937: »Nicht nur meine Kreativität wurde wiederbelebt, sondern auch mein sexueller Appetit. Und dies wird wahrscheinlich bis an mein Lebensende so bleiben.« In Wien nahm man die frohe Kunde wohl mit gewisser Genugtuung auf. Das theoretische Fundament zu dieser Operation hatte nämlich Eugen Steinach gelegt, am Vivarium tätiger Wissenschafter, ansässig in der Böcklinstraße und spätestens seit den 1920er Jahren weltweit bekannt – und umstritten – als »Verjüngungsarzt«. So ließ sich nicht nur Yeats »steinachen«, nein: Der an Krebs erkrankte Freud hatte sich im November 1923 ebenfalls dieser Operation unterzogen (sie habe allerdings nichts bewirkt, klagte er im August 1924). Auch Arthur Schnitzler zeigte sich an den Steinach’schen Forschungen sehr interessiert. Andere hingegen winkten ab: »Würden Sie sich steinachen lassen« wurde etwa 1924 George Bernard Shaw gefragt. »Ich möchte nicht verjüngt werden« antwortete dieser. »Wenn ich einen Wunsch habe, so ist es der, senilisiert zu werden«.

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