1) Wien, Frühling 1921. In der Böcklinstraße 49, in einer schönen Mehrparteienvilla nahe der Jesuitenwiese, grübelte Emanuel Winternitz über Kant und Kelsen, über den Philosophen aus Königsberg und den Rechtswissenschaftler aus Wien. Letzterem war der angehende Jurist, auch als dessen Privatsekretär, eng verbunden. So wird er sich später (1923) etwa in die publizistische Schlacht werfen, um Hans Kelsen gegen dessen abtrünnigen Schüler Fritz Sander zu verteidigen1. Noch allerdings herrschte Ruhe an dieser Front, historisch Bedeutsames absorbierte die Aufmerksamkeit der Juristenzunft: Die österreichische Bundesverfassung war in Kraft getreten. Bei deren Entwurf war Winternitz mittendrin statt nur dabei:
»Die Erläuterungen zu dem Wehrgesetz hat, wie im dritten Teile, Herr Ministerialrat Dr. Georg Fröhlich gearbeitet.
Bei Durchführung der Korrekturen hat mich Herr cand. jur. Emanuel Winternitz unterstützt. Beiden Herren sage ich herzlichen Dank.
Wien, im September 1920.
Hans Kelsen.«2
Emanuel, geb. 1898, vielseitig interessiert, hochgebildet und ohne jegliche Allüren, hatte das Sophiengymnasium in der Leopoldstädter Zirkusgasse besucht und war im 1. Weltkrieg als Soldat an der italienischen Front gewesen. Er logierte bei seinem Stiefvater (sein leiblicher Vater Paul hatte 1904 Selbstmord verübt): Adolf Kappelmacher entstammte einer sozialdemokratischen Familie und führte eine Anwaltskanzlei. Zu Adolfs Freunden zählte, so berichtet sein Stiefsohn später, auch Parteigründer Victor Adler (»My stepfather, an outstanding lawyer and liberal disciple and friend of the great Social Democrat, Victor Adler«).3
2) Emanuels bester Kumpel war definitiv Alfred Schütz. Zwar hatte die erste Begegnung schon 1918 im Rahmen des gemeinsamen Jusstudiums stattgefunden. Die Initialzündung zur engen Freundschaft allerdings erfolgte in der Wiener Staatsoper, während eines zufälligen Aufeinandertreffens, es war die Musik, die beide unverbrüchlich miteinander verband.4 In Alfreds Familie war Präzision ein großes Thema: Sein Vater Otto wirkte als Prokurist des einflussreichen Bankhauses Ephrussi (Währinger Straße 2–4). Die Kommandozentrale dieser Finanzinstitution befehligte der privat im Familienpalais am Schottentor residierende Victor Ephrussi; er hatte mit dem Adelsaufhebungsgesetz seinen Titel verloren, weshalb Otto und Victor im Sommer 1921 auch ganz offiziös, und Seite an Seite, im Amtsblatt der Wiener Zeitung landeten.
4) Joseph Herbert (von) Fürth wurde 1899 geboren, im selben Jahr also wie Alfred Schütz. Fürths Mutter Ernestine (1877, Prag–1946, Washington) war eine bedeutende Feministin, sein früh bei einem Badeunfall in Dänemark verstorbener Vater Emil hatte sich als Anwalt und Politiker einen Namen gemacht. Fürth besuchte das Akademische Gymnasium am Beethovenplatz und legte dort am 5. März 1917 die Kriegsmatura ab. Folgende Klassenkollegen zitterten unter anderem, so entnimmt man dem Jahresbericht des durchaus elitären Gymnasiums, am selben Tag dem erfolgreichen Abschluss ihrer Schulkarriere entgegen: Otto Halpern (später Physiker), Alfred Nirenstein (wohl der Bruder des späteren Galeristen Otto Kallir), Otto Lifczis (wohl der spätere Anwalt und Testamentsvollstrecker des Komponisten Alban Berg) sowie Maximilian Mintz.
4) Maximilian Mintz also. Er entstammte einer wohlhabenden Familie mit interessantem Background: Sein Vater Alexander war Anwalt (er hatte auch Marie Roberts van Son vertreten5, der wir schon im Umfeld der Vetsera-Baltazzis und als Bewohnerin der Villen Rustenschacherallee 6 und 8 begegneten), man kannte ihn als Mann, der eigentlich gerne Schriftsteller geworden wäre und im Literatencafe Griensteidl verkehrt hatte. Der in Wiens High-Society gut vernetzte Advokat galt zudem als politisch interessierter Intellektueller, der ursprünglich dem Zionismus nahe gestanden und 1897 beim 1. Zionistenkongress in Basel eine tragende Rolle gespielt hatte. Jahrzehnte später wird sich der zionistische Publizist Saul Raphael Landau vergrämt erinnern:
»Seitens der russischen und galizischen Zionisten wurde meine Kandidatur beantragt, während der Herzl’sche Anhang den Dr. Alexander Mintz, einen ganz unbekannten jungen Anwalt, der im Kreise der Familie Marmorek verkehrte, zur Wahl empfahl.«6
Auch den Marmoreks sind wir in diesem Blog natürlich schon begegnet: Oskar, dem Architekten der Villen Böcklinstraße 59, 61 und 63, sowie seinem Bruder Alexander, dem Bakteriologen und Freund von Sigmund Epler (Böcklinstraße 59). Die Eplers und ihr »Nachbar« Emanuel Winternitz waren übrigens – Überraschung! – miteinander verwandt.
Maximilian jedenfalls, Alexander Mintz‘ Sohn, wird sich 1926 mit der Nationalökonomin Ilse Schüller vermählen, einer Tochter des einflussreichen Spitzenbeamten Richard Schüller und seiner Gattin Erna, ihrerseits die Cousine des Hormonforschers Eugen Steinach (Böcklinstraße 51 und 53). Mehr zu Richard Schüller und seinem nach einem Bankencrash durch Selbstmord verstorbenen Bruder Ludwig siehe den Pratercottage-Blogtext über die Hohe Warte. (Im Geburtsbuch der Israelitischen Kultusgemeinde ist zu Ilse Schüller-Mintz als Zeuge übrigens Gabriel Frankl, wohnhaft in der Czerningasse 6, angegeben – offenbar der Vater von Viktor Frankl.)
Außerdem war Maximilian Mintz – via Amélie Schur, seiner in der weissrussischen Stadt Mahiljou/Mogilew geborenen Mutter – ein Cousin von Max Schur, dem Freund und Leibarzt von Sigmund Freud (es wird auch Schur sein, der Freud in London die tödliche Morphininjektion verabreicht).
5) Wien, Herbst 1921. Es erfolgte nun der Auftritt von Friedrich August von Hayek und Joseph Herbert Fürth, seinem schon oben erwähnten Freund. Die beiden hatten eben ihr Studium der Rechtswissenschaften abgeschlossen. Im Seminar von Othmar Spann war ihre intellektuelle Freiheit erheblich eingeschränkt worden, nun suchten sie intensiv nach geistigem Stimulus. Die maßgebliche Initiative kam hier von Fürth, der Hayek davon überzeugte, doch gemeinsam mit jüdischen Studienkollegen und Freunden einen Diskussionszirkel zu gründen.7
Resultat: Der Geist-Kreis wurde ins Leben gerufen, eine auf hohem Niveau debattierende Runde, die monatlich an ständig wechselnden Örtlichkeiten – zumeist in den Wohnungen der Teilnehmer – stattfand und eine breite Themenpalette (Literatur, Bildende Kunst, Musikgeschichte, Politische Philosophie, etc.) abdeckte. So wissen wir etwa, dass Maximilian Mintz, ein begeistertes Mitglied des Geist-Kreises und enger Freund von Fürth, unter anderem ein Referat über Albertine disparue, den sechsten, 1925 postum veröffentlichten Band von Marcel Prousts monumentalem Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, abhielt. Weiters ist bekannt, dass die Mitglieder des Geist-Kreises in erheblichem Maße ident waren mit regelmäßigen Besuchern jenes Privatseminars, das der liberale Wirtschaftswissenschaftler Ludwig von Mises seit 1920 in seinem Büro in der Handelskammer (Stubenring 8–10) abhielt. (Frauen waren, im Gegensatz zur Mises-Runde, beim Geist-Kreis allerdings nicht zugelassen – der Name Geist-Kreis entstammt dementsprechend einer ironischen, diesen Sachverhalt kritisierenden Bemerkung der Mises-Schülerin und Ökonomin Martha Stephanie Braun)
Zu den ständigen Mitgliedern beider Zirkel zählte auch jener Jüngling aus dem Pratercottage – er selbst nannte das Viertel übrigens ausschließlich Nobelprater –, dem wir am Beginn dieses Textes begegnet sind: Emanuel Winternitz, der im März 1922 promovierte.8
Zudem folgende Personen, die großteils, ebenso wie Winternitz, nach dem »Anschluss« bzw. schon zuvor, in den frühen 1930er-Jahren, in die USA emigrierten:
* Otto BENESCH [Kunsthistoriker, später in Harvard, an der Princeton University und nach seiner Rückkehr nach Wien Direktor der Albertina]
* Friedrich ENGEL (VON) JANOSI [Historiker]
* Walter FRÖHLICH [später Walter Froehlich und an der Marquette University, Milwaukee, tätig]9
* Joseph Herbert (von) FÜRTH [später Herbert Furth und in den USA am Federal Reserve Board – dem Rat der US-Notenbank – tätig; mehr zu ihm siehe oben]
* Franz GLÜCK [Kunsthistoriker, 1949-1968 Direktor des Historischen Museums der Stadt Wien/Wien Museum; unter seiner Ägide entstand der Museumsbau am Karlsplatz]
* Gottfried (von) HABERLER [Ökonom, später an der Harvard University]
* Friedrich A. von HAYEK [Ökonom, Nobelpreisträger]
* Felix KAUFMANN [Rechtsphilosoph; später an der New School for Social Research in New York tätig]
* Fritz MACHLUP [Ökonom; später unter anderem an der Princeton University tätig]
* Oskar MORGENSTERN [später an der Princeton University und gemeinsam mit John von Neumann – geb. als János Lajos Neumann in Budapest – Begründer der Spieltheorie]
* Alfred SCHÜTZ [später Alfred Schutz und an der New School for Social Research tätig; Begründer der phänomenologischen Soziologie; ein enger Freund von Emanuel Winternitz, siehe oben]
* Erich VOEGELIN (später Eric Voegelin; Politologe und Philosoph, ebenfalls ein enger Freund von Emanuel Winternitz]
* Robert WÄLDER [später Robert Waelder, Psychoanalytiker]
Im Mises-Zirkel fand man neben Emanuel Winternitz unter anderem:
* Ludwig BETTELHEIM-GABILLON [Sohn von Anton Bettelheim und der Schriftstellerin und Salonnière Helene Bettelheim-Gabillon; ermordet 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt]
* Martha Stephanie Braun [später Martha Steffy Browne und am Brooklyn College sowie an der New York University School of Continuing Education tätig]
* Marianne von HERZFELD [später Sekretärin des Wiener Bankverbandes, nach ihrer Flucht Leiterin eines Jugendheimes in Edinburgh und Übersetzerin]
* Helene LIESER [später Lieser-Berger und in der International Economic Association, Paris, tätig. Tochter von Alma Mahlers Freundin und Arnold Schönbergs Mäzenin Lilly Lieser, die im Holocaust ermordet wurde]
* Ilse MINTZ-SCHÜLLER [später im National Bureau of Economic Research und an der Columbia University tätig, wie schon oben erwähnt die Gattin von Maximilian Mintz und Tochter von Richard Schüller]
* Adolf G. REDLICH [später Redley; Mitglied der Industriellenfamilie Redlich und Enkel des einflussreichen Gouverneurs der Boden-Credit-Anstalt Theodor von Taussig]
* Paul N. ROSENSTEIN-RODAN [Ökonom; später am MIT und an der Boston University tätig]
* Erich SCHIFF [später Eric Schiff und Rechtsanwalt in Washington; Cousin des Philosophen Karl Popper]
* Karol (Karl) SCHLESINGER [1938 in Wien Selbstmord nach dem »Anschluss«]
* Fritz SCHREIER [Jurist und Marketing-Forscher; später unter anderem an der University of California tätig; Ehemann der bekannten Wiener Fotografin Josefine »Pepa« Feldscharek]
* Richard von STRIGL [Ökonom]
* Walter WEISSKOPF [später Nationalökonom an den Universitäten von Omaha und Chicago; Bruder des Physikers Victor Weisskopf und der Psychologin Edith Weisskopf ]
Emanuel Winternitz: The luggage of an immigrant (Typoskript)
Emanuel Winternitz: The luggage of an immigant (handschriftliche Notizen)
Michael D. Barber: The Participating Citizen. A Biography of Alfred Schutz. State University of New York Press, Albany 2004 (Vorschau auf Google Books)
Leo Baeck Institute. Center for Jewish History: Guide to the Papers of the Alfred Schutz Family 1868-2005 (Digitalisate)
Alan Ebenstein: Friedrich Hayek. A Biography. Palgrave for St. Martin’s Press, New York 2001
Tamara Ehs, Thomas Olechowski, Kamila Staudigl-Ciechowicz: Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, 1918–1938. V & R unipress, Göttingen 2015 (Vorschau auf Google Books)
Johannes Feichtinger: Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933–1945. Campus Verlag, Frankfurt–New York 2001 (Vorschau auf Google Books)
Ludwig von Mises: Erinnerungen von Ludwig v. Mises mit einem Vorwort von
Margit v. Mises und einer Einleitung von Friedrich August von Hayek. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart – New York 1978 (PDF-Digitalisat)
Marjorie Perloff: Wien: America. Paradoxien einer Emigration. Praesens Verlag, Wien 2013 (Marjorie Perloff ist die Tochter von Maximilian Mintz und Ilse Mintz-Schüller. Sie wurde 1931 in Wien als Gabriele Mintz geboren.)
2 Die Verfassungsgesetze der Republik Österreich, Teil 4. Franz Deuticke, Wien–Leipzig 1920. In: Matthias Jestaedt; Hans Kelsen Institut (Hrsg.): Hans Kelsen Werke, Band 5. Veröffentlichte Schriften 1919–1920. Mohr Siebeck, Tübingen 2011, S. 440 (Vorschau auf Google Books)
3 The luggage of an immigrant (Typoskript)
4 Emanuel Winternitz: The Role of Music in Leonardo’s Paragone. In: Maurice Natanson: Phenomenology and Social Reality. Essays in Memory of Alfred Schutz. Nijhoff, Den Haag 1970, S. 270
5 »Auf Ansuchen der Marie Roberts van Son, Privaten in Wien, II., Prinzenallee, Villa van Son, durch Dr. Alexander Mintz, Hof- und Gerichtsadvokaten in Wien, I., Johannesgasse Nr. 16, wird das Verfahren zur Amortisierung nachstehenden, der Gesuchstellerin angeblich in Verlust geratenen Wertpapieres« etc. etc. In: Wiener Zeitung – Amtsblatt, 26. August 1915, S. 156 (online auf ANNO)
6 Saul Raphael Landau: Sturm und Drang im Zionismus. Rückblicke eines Zionisten vor, mit und um – Theodor Herzl. Verlag Neue National-Zeitung, Wien 1937, S. 98
7 Axel Leijonhufvud im Gespräch mit Friedrich von Hayek. In: Nobel prize-winning economist oral history transcript. University of California, 1983, S. 33 – Digitalisat auf archive.org (abgerufen am 31. März 2017)
8 The luggage of an immigrant (Typoskript)
9 Zu Walter Froehlich: Paul Streeten: Aerial roots. In: J. A. Kregel (Hrsg.): Recollections of Eminent Economists, Band 2. Macmillan Press, Houndmills-London 1989, S. 73 (Vorschau auf Google Books)