Der Traum von Eretz Israel. Oskar Marmorek, Bauherr und Architekt der Häuser Böcklinstraße 59, 61, 63

Führende Zionisten und enge Freunde: Oskar Marmorek (1863-1909) und Theodor Herzl (1860-1904).

»Das ist das Bauamt,« sagte David. »Hier haust Steineck, unser erster Architekt. Von ihm ist der Stadtplan entworfen worden.«
»Der Mann hat eine große Aufgabe,« sprach Friedrich.
»Groß, jawohl, aber auch freudig. Er durfte aus dem Vollen schaffen, wie übrigens wir alle. Nie in der Geschichte sind Städte so rasch und herrlich erbaut worden wie bei uns, weil man nie vorher solche technischen Mittel zur Verfügung hatte.«
Theodor Herzl, Altneuland, 1902

Ein Jahr, bevor sein Haus in der ruhigen Straße zwischen Donaukanal und Prater errichtet wurde, hatte er noch eine flammende Rede gehalten. Es war am 23. August 1903, beim 6. Zionistenkongress in Basel, als Oskar Marmorek, begleitet von lebhaftem Beifall und Händeklatschen, nach der Einführung von Theodor Herzl das Wort ergriff. »Die zionistische Volksbewegung steht im innigen Kontakt mit dem Leben, den Leiden und Freuden des jüdischen Volkes, und diese sind es, welche seine Tätigkeit und Bemühungen bestimmen und dirigieren,« donnerte der im galizischen Pieskowa Skała geborene und seit 1875 in Wien ansässige Architekt in den Saal. »Noch auf dem ersten Kongresse konnte der große Schilderer der Lage der Juden seinem düsteren Bilde einige, wenn auch wenige Lichter aufsetzen. Heute, nach kaum sieben Jahren, sind sie alle verdunkelt und fast überall, wohin wir unsere Blicke auch wenden mögen, ist die Situation eine düstere, kaum in den Nuancen der Trostlosigkeit sich unterscheidende.«

Seine Zuhörer wussten nur zu gut, worauf der Redner hier anspielte, standen sie doch noch unter dem Eindruck des antisemitischen Pogroms im damals russischen Chisinau/Kischinjow, dem fast fünfzig Menschen zum Opfer gefallen waren und das auf Grund seiner Brutalität durch die Weltpresse ging. Antijüdische Ausschreitungen und Hetze in Galizien, in Algerien, in Marokko, in Makedonien, in der Bukowina, sogar in New York – Marmoreks Schilderungen dieser Exzesse versetzten in der Folge den gesamten Saal in eine bedrückte und gleichzeitig kämpferische Stimmung.

Es sollte der letzte Zionistenkongress sein, der unter der Präsidentschaft von Theodor Herzl stattfand. Der visionäre Journalist und Politiker erlag am 3. Juli 1904 in Edlach bei Gloggnitz einem schweren Herzleiden. Oskar Marmorek, der von ihm in der Utopie Altneuland (1902) als Architekt Steineck verewigte Gefährte, weilte in diesen letzten Stunden an seiner Seite. »Noch um halb 5 Uhr nachmittags waren um sein Bett die Mutter, die Herren Dr. Singer, Marmorek, Kremenezky, Reich und ich versammelt, nachdem kurz vorher Frau Dr. Herzl eine Zeitlang an seinem Lager verweilt hatte und nach zärtlichem Abschied wieder zu den Kindern gegangen war.« berichtete Herzls enger Mitarbeiter Sigmund Werner, Herausgeber der zionistischen Zeitschrift Die Welt (Wien, 1897-1914). »Die Herren erzählten, um Herzl aufzuheitern, Geschichtchen. Herzl selbst lächelte wiederholt und beteiligte sich auch durch einige Bemerkungen an dem Gespräche. Endlich sagte er: ‚Nun, meine Lieben, lasst mich allein.‘ Die Anwesenden zogen sich sofort zurück, zuletzt Architekt Marmorek, dem er die Hand gab und sagte: ‚Ich weiss, Du bist mir ein treuer Freund.’« Eine halbe Stunde später schloss Theodor Herzl für immer die Augen.

Sie kamen auf einen mit Bäumen bepflanzten Kai. Vor einem entzückenden Palästchen hielten Sie an. Da stand ein heftig gestikulierender Herr, der einen grauen Schnurrbart hatte und mit zurückgeworfenem Kopfe über den Rand seines abrutschenden Kneifers hinweg die Ankömmlinge betrachtete. »Ich wäre an eurer Stelle gar nicht gekommen!« schrie er ihnen entgegen. »Seit einer halben Stunde steh‘ ich mir da die Beine in den Leib. Ich werde nie wieder pünktlich sein.« David hielt ihm statt jeder Antwort die Taschenuhr vor die Augen. »Das beweist nichts,« rief Steineck; »Ihre Uhr geht zu langsam. Ich glaube überhaupt nicht an Uhren… Da, nehmen Sie meine Pläne! Aber nicht verdrücken, bitte! So, und jetzt rückwärts fertig.« Er hatte die drei großen Kartonrollen, die er unter dem Arme gehalten, David und Reschid zugeschoben und war schnaufend in den Wagen geklettert.
Theodor Herzl, Altneuland, 1902

1898 im Auftrag des Schwiegervaters erbaut: Oskar Marmoreks Entwurf für den Nestroy-Hof.

1904 also, in jenem Jahr, in dem der schmerzerfüllte Oskar Marmorek diesen großen menschlichen Verlust erleiden musste, erbaute er seine erste Villa in der Böcklinstraße, auf Nr. 59. Er, der auf Grund der antisemitischen Boykottmaßnahmen von Karl Luegers christlichsozialer Partei in Wien keine öffentlichen Aufträge bekam, agierte hier wie auch bei den 1908 folgenden Häusern Böcklinstraße 61 und 63 als sein eigener Bauherr und errichtete die sachlich gehaltenen Villen in der Hoffnung, sie nach Fertigstellung weiter verkaufen zu können. Somit zog der Architekt mit seinen Entwürfen ein fein gesponnenes Netz über die Leopoldstadt, vom Vergnügungspark Venedig in Wien, dem an der Praterstraße gelegenen Nestroy-Hof (erbaut für Julius Schwarz, den Vater seiner Gattin Nelly) und einem Mietshaus in der Floßgasse 4 über den Umbau der Synagoge Tempelgasse (zerstört im Novemberpogrom 1938) bis zum Pratercottage am Ostrand des 2. Bezirks. Theodor Herzls Vision allerdings sollte sich nie erfüllen: im Gegensatz zu der von ihm in Altneuland – die hebräische Übersetzung des Buches wurde Tel Aviv (dt. Frühlingshügel) betitelt und gab der Stadt ihren Namen – imaginierten Zukunft würde der in dieser Utopie als gefühlsbetonter Hitzkopf porträtierte Oskar Marmorek in Palästina kein einziges Projekt verwirklichen. Am Nachmittag des 6. April 1909 verließ der depressive, unter schlechter Auftragslage und den Nachwirkungen einer schmerzhaften Operation leidende Architekt seine Wohnung am Wiener Maximilianplatz (heute: Rooseveltplatz), stieg in eine Kutsche, fuhr zum Zentralfriedhof und erschoss sich dort am Grab seines Vaters.

Der andere Herr in Mrs. Gotlands Gesellschaft war des Architekten Bruder, der Bakteriologe Professor Steineck, ein lustiger, hastiger und zerstreuter Gelehrter, der so laut sprach, als ob er immerfort mit einem Auditorium von Schwerhörigen zu tun hatte. Mit seinem Bruder geriet er in der Regel nach fünf Minuten Beisammenseins in Streit, obwohl sie einander vergötterten.
Theodor Herzl, Altneuland, 1902

Oskar Marmoreks Bruder, der Bakteriologe und Zionist Alexander Marmorek (1865-1923). Foto: Pierre Petit.

Heute, mehr als hundert Jahre nach ihrer Erbauung, bilden seine einander benachbarten Häuser in der Böcklinstraße ein steinernes Triptychon der Erinnerung an die jüdische Vergangenheit des Viertels. Gemeinsam mit Theodor Herzl und seinem am Pariser Institut Pasteur als Bakteriologe tätigen Bruder Alexander, der ebenfalls eine führende Rolle in der zionististischen Bewegung einnahm, hatte Oskar Marmorek verfolgten Juden eine neue Heimstatt bieten wollen, das gelobte Land, Eretz Israel – unzählige Menschen, die hier, zwischen Donaukanal und Prater wohnten, sollten dies nicht mehr erleben. Vor 1938 wohnten in der Schüttelstraße; in der Böcklinstraße; in der Rustenschacherallee; und in allen Querstraßen jüdische Schneider ebenso wie Industrielle, jüdische Greisslerinnen ebenso wie Intellektuelle. Viele Häuser befanden sich in jüdischem Eigentum – sie alle wurden arisiert, ihre Besitzer mussten emigrieren oder starben in Vernichtungslagern. Dem Wahn der nationalsozialistischen Massenmörder fielen im Pratercottage, wo nach dem „Anschluss“ auch Sammelwohnungen angesiedelt waren (etwa in der Villa Böcklinstraße 35), fast 200 Menschen zum Opfer – sie wurden in Theresienstadt, in Riga, in Maly Trostinec, in Auschwitz ermordet. Darunter waren auch elf Mädchen im Alter von acht bis fünfzehn Jahren, die im Lele Bondi-Heim gelebt hatten, einer jüdischen Wohlfahrtseinrichtung, deren Räumlichkeiten sich seit 1928 in Marmoreks Haus Böcklinstraße 59 befanden. Der Organisator des Holocaust, Adolf Eichmann, hingegen nistete sich im August 1938 in der Böcklinstraße 63 ein und wohnte dort, teilweise gemeinsam mit seiner Familie, bis zu seiner Abreise aus Wien im Juli 1939 – ein zynischer Akt von Machtausübung gegenüber dem jüdisch-zionistischen Architekten des Gebäudes, über dessen Tod hinaus.

Die an der Ecke zur Friedensgasse gelegene, nicht mehr in ihrem Originalzustand erhaltene Villa wird derzeit umfassend renoviert; Oskar Marmoreks ein Jahr vor seinem Suizid errichtetes Haus soll nun in neuem Glanz erstrahlen. Gemeinsam mit seinen beiden daran angrenzenden Gebäuden war sie ein stummer Zeuge des in der k.u.k. Monarchie virulenten, in der NS-Zeit schließlich mörderischen Antisemitismus ebenso wie der Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben von Völkern und Religionen in Nahen Osten. Letzteres jedoch, so ist bedrückt zu konstantieren, scheint nach wie vor ein Wunschtraum zu sein.

Monument der Erinnerung: Das 1904 von Oskar Marmorek erbaute Haus in der Böcklinstraße 59. Foto: Der Architekt, 1907.
LITERATUR
Markus Kristan, Oskar Marmorek. Architekt und Zionist 1863 – 1909. Böhlau Wien, 1996

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

Kommentare sind geschlossen.