Der Ehrenbürger von Ostrau und die Katzen: Victor Lustig, Böcklinstraße 61, ca. 1911-1918

Oderberg 1, Vorbahnhof

Oderberg: Gigantische Bahnhofsanlage, Ölraffinerie, Chemieindustrie, rauchende Fabrikschlote. In unmittelbarer Nähe: Die riesigen Witkowitzer Eisenwerke, wo tausende Menschen an glühenden Hochöfen ihren Lebensunterhalt erarbeiten. Und auch, nur 8 km entfernt: Das zwischen Klassizismus und Neorenaissance pendelnde Schloss Schillersdorf (Zámek Šilheřovice), Mitte der 1840er Jahre von Salomon von Rothschild erworben und nun im Besitz seines Wiener Urenkels Alfons (Alphonse), Schillersdorf, ein beliebter Treffpunkt der k.u.k. Society, seit Jahrzehnten berühmt vor allem durch seine Jagdgesellschaften. Ebenfalls im näheren Umkreis zu finden: Schloss Beneschau (Dolní Benešov), das Anwesen von Louis von Rothschild – er ist, im Gegensatz zu seinem Bruder, auch mit den geschäftlichen Belangen von Witkowitz befasst.

Victor Lustig kennt das alles; folgerichtig war er daher auch Teil jener schillernden Runde, die sich 1911 im Wiener Palais Rothschild versammelte, um Albert, dem verstorbenen Patriarchen, die letzte Ehre zu erweisen. Lustig wirkte als Bürgermeister von Oderberg (Bohumín), diesem für die ausgedehnten Industriegebiete in Mähren und Schlesien so wichtigen Verkehrsknotenpunkt – die Stadt wurde schon 1847 an das Netz der Kaiser Ferdinands-Nordbahn angeschlossen. Es gibt hier, wie im fernen Wien, einen Naschmarkt und auch eine Ringstraße. Im Jahr 1900 wurde, endlich, eine eindrucksvolle Synagoge eröffnet, entworfen[1] von Jakob Gartner, einem angesehenen, auf jüdische Gebetsstätten spezialisierten Architekten. Über eben diesen Synagogenbau in Oderberg weiß Lustig natürlich viel zu erzählen: Er war ja, wie, unter stürmischen Akklamationen, bei der Einweihung betont wurde, maßgeblich dafür verantwortlich.

Darf man also von erfüllten Jahren sprechen, die der Ex-Politiker sowie ehemalige Kultusvorstand von Oderberg – und auch hoch geschätzte Ehrenbürger von Ostrau! – hinter sich hat? Ja, man darf. Seit 1889[2] verheiratet mit Malvine und mehrfacher Vater, übersiedelte Lustig schließlich rund um 1911[3] ins Pratercottage. Nun lebt er mit seiner Familie in einer jener Villen, die der unglückliche Oskar Marmorek in die Böcklinstraße gestellt hat. Im Nebenhaus übrigens wohnt, nicht unpraktisch, Malvines Bruder: Es ist Sigmund Epler, der im Zionismus engagierte Manager und Gefolgsmann von Theodor Herzl. Und mit wem ist das aus Brünn stammenden Geschwisterduo Epler via Bruder Max, auch er ein Manager, verschwägert? Mit Gabriele, der Schwester von Stefanie Adams; letztere war mit Wilhelm, dem Bruder des Großindustriellen Hans Emil von Gutmann (Rustenschacherallee 40, danach 28), verheiratet gewesen und steuert nun als Ehefrau des viel beschäftigten Malers John Quincy Adams durch die Wiener Gesellschaft. (Ein weiteres Mitglied der Familie, die Tänzerin und Designerin Ruth Sobotka, geb. 1925 in Wien, wird Jahrzehnte später den aufstrebenden Filmregisseur Stanley Kubrick heiraten. Aber dies ist eine andere Geschichte.)

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4. Mai 1910: Trauung im Stadttempel. Sigmund Epler, Böcklinstraße 59

Hochzeit Alexander Marmorek

Ein Jahr zuvor hatte sich der Bruder des Bräutigams erschossen, am Wiener Zentralfriedhof, am Grab des Vaters - es war ein Ereignis, das die Trauung im Wiener Stadttempel wohl überschattet haben musste. Nun, am 4. Mai 1910, also schritten der von Louis Pasteur nach Paris berufene Bakteriologe Alexander Marmorek, Theodor Herzls engagierter Mitstreiter, und die französische Ärztin Rachel Steinberg zur Vermählung. Als Trauzeugen[1] agierten Sigmund Epler und Johann Kremenezky, ersterer bekannt als mächtiger Vorstand der Kohlen-Sektion in der Länderbank, zweiterer ein höchst innovativer Industrieller, dessen Glühbirnen auch das nunmehr elektrifizierte Wien erleuchteten. Beide waren eng mit dem Zionismus verbunden: Epler, dessen bei der Kaiser Ferdinands-Nordbahn beschäftigter Vater Hermann Vizepräsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Brünn (Brno) gewesen war, hatte sich zu Beginn der 1890er Jahre der Chowewe-Zionbewegung (auch: Chibbat Zion) angeschlossen, vor seiner Übersiedlung nach Wien schon die böhmischen Zionisten organisiert[2] und zählte zu Theodor Herzls frühesten Gefolgsleuten. Kremenezky wiederum hatte zudem 1901 den Jüdischen Nationalfonds (Keren Kajemeth) ins Leben gerufen, der Geld zum Ankauf von Siedlungsland in Palästina zur Verfügung stellte.

Viel wird an diesem Tag also von Herzl die Rede gewesen sein. Und natürlich auch von Oskar, Alexander Marmoreks oben erwähntem Bruder - Sigmund Epler (1859-1928), der sich im Laufe der kommenden Jahre zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten des Wiener Judentums entwickeln würde, residierte mit seiner Gattin Amalie (geb. von Steingraber) und den gemeinsamen Kindern in einer Villa, die der suizidale Architekt entworfen hatte. Den Garten in der Böcklinstraße 59 (= Valeriestraße 21) teilten sich die Eplers schon damals, im Jahr 1910, unter anderem mit dem Maler Hugo Charlemont, den, ebenso wie Charlemonts Tochter Alice, Robert Musil später im Mann ohne Eigenschaften verewigen wird.

[1] Markus Kristan, Oskar Marmorek. Architekt und Zionist 1863-1909 (Böhlau, 1998)
[2] Die Stimme (Wien), 5. Jänner 1928

Der Prater, die Pferde und die Familie Springer, Teil 4: Die Bergwerke in Jaworzno

Steinkohlengrube in Jaworzno. Zeichnung von Hugo Charlemont (Kronprinzenwerk, Band: Galizien, 1898)

Im Wiener Straßennetz finden sich einige ganz großartige Namen (1010, Stoß im Himmel, z.B., oder 1140, Grüne Stube). Vor wenigen Jahren gesellte sich nun auch 1020, An den Kohlenrutschen hinzu. Der so liebevoll betitelte Verkehrsweg im noch jungen Stadtentwicklungsgebiet Nordbahnhof mündet in die ebenfalls neu geschaffene Krakauer Straße. Fürwahr eine interessante topografische Festschreibung, die zu einem Blick zurück verleitet:

Die Presse, 18. Februar 1869
»Seit einigen Wochen sind hier Gerüchte verbreitet, die Nordbahngesellschaft beabsichtige das große Kohlenbergwerk Jaworzno käuflich an sich zu bringen. Bis jetzt haben diese Gerüchte wenig Wahrscheinlichkeit an sich; aber schon die bloße Anregung des Gedankens erregt in industriellen Kreisen Besorgnis über die Großmachtstellung der Nordbahn im Kohlenrayon Krakaus, da die Nordbahn ohnehin das bedeutende Kohlenbergwerk Pechnik bei Jaworzno besitzt. Man befürchtet nämlich – ich weiss nicht, ob mit Recht – die Nordbahn werde durch den Ankauf Jaworznos gewissermaßen Monopolistin im Kohlenrayon Krakaus werden.«

Neues Fremden-Blatt, 15. Mai 1871
»Die Verhandlungen wegen des Verkaufes des ärarischen Kohlenwerkes Jaworzno haben zu einem definitiven Resultate geführt. Das Werk ist bereits an ein aus den Bankiers Springer, Schoeller, Gebrüder Gutmann bestehendes Konsortium verkauft worden. Als Kaufpreis nennt man uns ca. 2,1 Millionen Gulden. Ob die Ersteher ihre Erwerbung für die Zeichnung einer Aktiengesellschaft verwerten werden, steht noch nicht fest.«

Die von Salomon Rothschild begründete Kaiser-Ferdinands-Nordbahn, Urmutter der ÖBB, angesiedelt im prächtigen Nordbahnhof, sie ging also leer aus. Hauptaktionär der Nordbahn war nach wie vor das Haus Rothschild, mit dem die Gebrüder Gutmann interessanterweise schon damals, seit 1865 nämlich, in Geschäftsbeziehungen standen (ab 1869 hatte überdies die intensive Zusammenarbeit betreffend die später so riesigen Eisenwerke in Witkowitz/Vitkovice begonnen). Ebenfalls 1865 hatten die Gutmanns zudem in Breslau gemeinsam mit der schlesischen Firma C. T. Löbbecke die Georg- und Morgenstern-Grube erworben und dabei auch den späteren Freund Max von Springer beteiligt. Doch nun waren die neuen Besitzer der Jaworznoer Kohlengruben unzufrieden. In seinem nicht nur für Bergbau-Experten interessanten Erinnerungsband Aus meinem Leben (1891) beklagt Wilhelm von Gutmann den hohen Kaufpreis, den »verwahrlosten Zustand der Anlage« und die »geringe Qualität der Kohle, welche eine Verfrachtung auf weitere Entfernung nicht lohnend erscheinen ließ«. Die Häuser Springer, Gutmann, Schoeller und Todesco (auf letzteres wurde in oben zitiertem Artikel vergessen) machten sich also ans Werk, modernisierten die Anlage und errichteten »verschiedene humanitäre Anstalten« (Gutmann) für die Arbeiter, deren Zahl im Jahr 1891 auf 1.400 angewachsen war.

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