Oderberg: Gigantische Bahnhofsanlage, Ölraffinerie, Chemieindustrie, rauchende Fabrikschlote. In unmittelbarer Nähe: Die riesigen Witkowitzer Eisenwerke, wo tausende Menschen an glühenden Hochöfen ihren Lebensunterhalt erarbeiten. Und auch, nur 8 km entfernt: Das zwischen Klassizismus und Neorenaissance pendelnde Schloss Schillersdorf (Zámek Šilheřovice), Mitte der 1840er Jahre von Salomon von Rothschild erworben und nun im Besitz seines Wiener Urenkels Alfons (Alphonse), Schillersdorf, ein beliebter Treffpunkt der k.u.k. Society, seit Jahrzehnten berühmt vor allem durch seine Jagdgesellschaften. Ebenfalls im näheren Umkreis zu finden: Schloss Beneschau (Dolní Benešov), das Anwesen von Louis von Rothschild – er ist, im Gegensatz zu seinem Bruder, auch mit den geschäftlichen Belangen von Witkowitz befasst.
Victor Lustig kennt das alles; folgerichtig war er daher auch Teil jener schillernden Runde, die sich 1911 im Wiener Palais Rothschild versammelte, um Albert, dem verstorbenen Patriarchen, die letzte Ehre zu erweisen. Lustig wirkte als Bürgermeister von Oderberg (Bohumín), diesem für die ausgedehnten Industriegebiete in Mähren und Schlesien so wichtigen Verkehrsknotenpunkt – die Stadt wurde schon 1847 an das Netz der Kaiser Ferdinands-Nordbahn angeschlossen. Es gibt hier, wie im fernen Wien, einen Naschmarkt und auch eine Ringstraße. Im Jahr 1900 wurde, endlich, eine eindrucksvolle Synagoge eröffnet, entworfen[1] von Jakob Gartner, einem angesehenen, auf jüdische Gebetsstätten spezialisierten Architekten. Über eben diesen Synagogenbau in Oderberg weiß Lustig natürlich viel zu erzählen: Er war ja, wie, unter stürmischen Akklamationen, bei der Einweihung betont wurde, maßgeblich dafür verantwortlich.
Darf man also von erfüllten Jahren sprechen, die der Ex-Politiker sowie ehemalige Kultusvorstand von Oderberg – und auch hoch geschätzte Ehrenbürger von Ostrau! – hinter sich hat? Ja, man darf. Seit 1889[2] verheiratet mit Malvine und mehrfacher Vater, übersiedelte Lustig schließlich rund um 1911[3] ins Pratercottage. Nun lebt er mit seiner Familie in einer jener Villen, die der unglückliche Oskar Marmorek in die Böcklinstraße gestellt hat. Im Nebenhaus übrigens wohnt, nicht unpraktisch, Malvines Bruder: Es ist Sigmund Epler, der im Zionismus engagierte Manager und Gefolgsmann von Theodor Herzl. Und mit wem ist das aus Brünn stammenden Geschwisterduo Epler via Bruder Max, auch er ein Manager, verschwägert? Mit Gabriele, der Schwester von Stefanie Adams; letztere war mit Wilhelm, dem Bruder des Großindustriellen Hans Emil von Gutmann (Rustenschacherallee 40, danach 28), verheiratet gewesen und steuert nun als Ehefrau des viel beschäftigten Malers John Quincy Adams durch die Wiener Gesellschaft. (Ein weiteres Mitglied der Familie, die Tänzerin und Designerin Ruth Sobotka, geb. 1925 in Wien, wird Jahrzehnte später den aufstrebenden Filmregisseur Stanley Kubrick heiraten. Aber dies ist eine andere Geschichte.)
Jenes gravierende Problem, das Victor Lustig schließlich gezwungen ist, einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen, betrifft also auch Sigmund Epler und die benachbarten Gutmanns ebenso wie alle anderen, die rund um die Böcklinstraße (früher: Valeriestraße) und die Rustenschacherallee wohnen. Im Juni 1916 schreibt Lustig, erschöpft und von Schlafmangel gepeinigt, einen Leserbrief an die Neue Freie Presse:
»Gegen die Erhöhung der Hundesteuer habe ich nichts einzuwenden, trotzdem ich selbst Besitzer eines Hundes bin. Aber die Steuerbehörde möge auch eine Steuer für Katzen einführen. In allen Bezirken, wo Villen mit Gärten stehen, sammeln sich nachts alle Katzen in den Gärten und unterhalten sich oft so geräuschvoll, dass die Parteien die ganze Nacht nicht schlafen können. Jeder, der eine Villa mit Garten kauft und bewohnt, will damit bezwecken, dass er sich ein ruhiges, angenehmes Heim schafft.
In der Valeriestraße existieren sehr viele Katzen und die nächtliche Ruhestörung ist im Sommer höchst peinlich, da man doch nachts die Fenster offen hält.
Ich habe eine Beschwerde beim Polizeikommissariat 2. Bezirk und Prater vorgebracht, worauf ich die Antwort erhielt, dass man die Katzen nicht vorladen kann. Um diesem Übelstand ein Ende zu bereiten und unserer k.k. Steuerbehörde eine neue Steuerkraft zu empfehlen, möchte ich beantragen, eine Katzensteuer von 8 bis 10 K. per Jahr einzuführen. Mit dieser Steuereinführung würden die Katzen eine Marke und ein Halsband bekommen, worauf zu ersehen wäre, wem die Katze gehört, und es entfiele der Bescheid. Erwähnen will ich, dass viele Parteien sich Luxuskatzen halten, die keine Mäuse fangen, solche sollen doppelt besteuert werden.«
War diesem Aufruf ein Erfolg beschieden? Aus der Sicht des Antragstellers: Leider nein. Knapp zwei Jahre später verstirbt Victor Lustig und findet seine letzte Ruhestätte am Wiener Zentralfriedhof. Die Villa in der Böcklinstraße 61 wird auch nach seinem Tod in Familienbesitz verbleiben [4].
[1] Architekturzentrum Wien-Architektenlexikon 1770-1945: Jakob Gartner (online)
[2] Neue Freie Presse, 16. März 1889, rechte Spalte, unten (online auf Anno)
[3] WStLA, Vermessungsamt, A1: Grundbesitzerbögen, Schachtel A1/13 (252/1910 Victor Lustig), bzw. ab 1913 Lehmanns Adressbuch (online)
[4] U. a. Lehmanns Adressbuch 1938 (online)