Freiburg, mon amour: Jean Lassner, Laufbergergasse 6, Schüttelstraße 15 und Böcklinstraße 35 (1913-1938)

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Freiburg im Winter 1934: Das Philosophen-Trio Jan Patočka, Edmund Husserl, Eugen Fink. Rechts: Hans Lassner.

Die Krise des europäischen Daseins hat nur zwei Auswege: Den Untergang Europas in der Entfremdung gegen seinen eigenen rationalen Lebenssinn, den Verfall in Geistfeindschaft und Barbarei, oder die Wiedergeburt Europas aus dem Geiste der Philosophie durch einen den Naturalismus endgültig überwindenden Heroismus der Vernunft. Europas größte Gefahr ist die Müdigkeit.
Edmund Husserl, Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie (Wien, Mai 1935)

Es waren, so schilderte es ein Beteiligter, ungewöhnlich milde Weihnachten gewesen. »Auf dem Schlossberg begannen die Forsythien zu blühen«, erzählte Jan Patočka, tschechischer Philosoph sowie, gemeinsam mit Václav Havel und Jiří Hájek, Sprecher der Bürgerrechtsbewegung Charta 77. Und so überlegten die Männer, kaum verwunderlich, die regelmäßigen Spaziergänge gar bis St. Ottilien auszudehnen, das idyllisch auf einer Anhöhe gelegene Waldheiligtum in der Nähe von Freiburg. Diese Fußmärsche wurden von intensiven, philosophisch grundierten Gesprächen begleitet, die vorwiegend um ein ganz spezielles Thema kreisten: die Phänomenologie. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand natürlich deren Begründer Edmund Husserl, einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts, damals 75jährig und – im Gegensatz zu seinem einstigen Assistenten Martin Heidegger, von dem er sich in jener Zeit sehr enttäuscht zeigte – von den Nazis verfemt, der in besagtem Dezember 1934 erfreulichen Besuch erhalten hatte: von eben erwähntem Jan Patočka aus Prag, von seinem engen Mitarbeiter Eugen Fink, und von einem jungen, hoffnungsvollen Medizinstudenten aus der Böcklinstraße, der am 27. Dezember eingetroffen war. »Auch war Hans Lassner aus Wien da«, schilderte Patočka Jahrzehnte später, »welcher viele kleine nette Aufnahmen von Husserl machte, die dann in Umlauf kamen.« Ursprünglich vage Pläne begannen sich nun während der Spaziergänge zu konkretisieren, wobei der engagierte Jungfotograf Lassner wertvolle Informationen seine Heimatstadt betreffend liefern konnte: »Husserls Reise nach Prag und Wien zu Vorträgen wurde damals beschlossen.« (Jan Patočka). Erwähnte Vorträge bildeten schließlich eine Grundlage zu Husserls letzter großer Arbeit Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936).

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Der melancholische Schmerzensmann der Belle Époque. Auguste-Olympe Hériot, Rustenschacherallee 30 (ab 1929)

Auguste-Olympe Hériots Wurzeln und die Quelle seines Reichtums: Das Pariser Großkaufhaus Grands Magasins du Louvre. Hier schlug die Geburtsstunde der Konsumgesellschaft.

Noch während 2011 mehrere britische Städte von abrupten und sehr heftigen Ausschreitungen erschüttert wurden, publizierte Zygmunt Bauman einen viel beachteten Essay. Seine Kernthese: »These are riots of defective and disqualified consumers.« Ob man ihm nun zustimmt oder nicht – der renommierte Philosoph und Soziologe eröffnete damit jedenfalls eine interessante Debatte über die soziokulturellen Auswirkungen der Konsumgesellschaft, die in den kommenden Jahren an Intensität wohl zunehmen wird.

Warum dieser die aktuelle Politik betreffende Verweis hier, in einem Text über Auguste-Olympe Hériot, zu finden ist? Nun, sobald man sich auf dessen Spuren begibt, stösst man unweigerlich auf Émile Zolas Das Paradies der Damen (Au Bonheur des Dames). Der umfangreich, auch anhand vieler Interviews, recherchierte und 1883 erschienene Roman rund um ein Pariser Warenhaus enthält nicht nur wesentliche Elemente der Hériot’schen Familienchronik, sondern entpuppt sich überdies als verblüffend scharfsichtiges Porträt einer Gesellschaft, die, gesteuert durch ausgefeilte Verkaufstechniken, sich einem ungehemmten Shoppingwahn hingibt. Vieles, allzu vieles klingt hier höchst vertraut: »Endlich wurde geöffnet, und der Strom der Kunden setzte ein. Gleich in der ersten Stunde, noch ehe die dahinter liegenden Geschäftsräume sich gefüllt hatten, entstand unter dem Eingang ein solches Gedränge, dass die Polizei einschreiten musste, um den Bürgersteig für den Verkehr freizuhalten. Mouret hatte richtig gerechnet: eine geballte Masse von Köchinnen, Haushälterinnen und kleinen Bürgersfrauen stürzte sich auf diese billigen Artikel, man stieß und drängte sich, ein dichter Menschenknäuel balgte sich um die Waren.«

Es waren also Szenen wie diese, die sich vor den Grands Magasins du Louvre abspielten, jenem riesigen, 1855 von Auguste Hériot (1826-1879), Alfred Chauchard und Charles Eugene Fare gegründeten Warenhaus, das gemeinsam mit dem von Aristide Boucicaut drei Jahre zuvor eröffneten Einkaufstempel Le Bon Marché dem faszinierten Zola als unwiderstehliches Role Model diente. Besagte Kaufhäuser waren die weltweit ersten ihrer Art; sie begründeten nicht nur die Konsumgesellschaft, sondern schlugen auch eine Schneise ins damals nach wie vor existierende Pariser Klassensystem: In ihren Hallen trafen erstmals in gleich berechtiger Weise kleine Angestellte auf das aufstrebende Bürgertum und Teile der Aristokratie. Allerdings wurden, wie man selbst bei dem dieser Entwicklung durchaus positiv gegenüberstehenden Zola nachlesen kann, erhebliche Teile des oftmals in kleinen, dunklen Geschäften angesiedelten Einzelhandels ruiniert und enormer Preisdruck auf die Produzenten der Waren ausgeübt.

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