Die Krise des europäischen Daseins hat nur zwei Auswege: Den Untergang Europas in der Entfremdung gegen seinen eigenen rationalen Lebenssinn, den Verfall in Geistfeindschaft und Barbarei, oder die Wiedergeburt Europas aus dem Geiste der Philosophie durch einen den Naturalismus endgültig überwindenden Heroismus der Vernunft. Europas größte Gefahr ist die Müdigkeit.
Edmund Husserl, Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie (Wien, Mai 1935)
Es waren, so schilderte es ein Beteiligter, ungewöhnlich milde Weihnachten gewesen. »Auf dem Schlossberg begannen die Forsythien zu blühen«, erzählte Jan Patočka, tschechischer Philosoph sowie, gemeinsam mit Václav Havel und Jiří Hájek, Sprecher der Bürgerrechtsbewegung Charta 77. Und so überlegten die Männer, kaum verwunderlich, die regelmäßigen Spaziergänge gar bis St. Ottilien auszudehnen, das idyllisch auf einer Anhöhe gelegene Waldheiligtum in der Nähe von Freiburg. Diese Fußmärsche wurden von intensiven, philosophisch grundierten Gesprächen begleitet, die vorwiegend um ein ganz spezielles Thema kreisten: die Phänomenologie. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand natürlich deren Begründer Edmund Husserl, einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts, damals 75jährig und – im Gegensatz zu seinem einstigen Assistenten Martin Heidegger, von dem er sich in jener Zeit sehr enttäuscht zeigte – von den Nazis verfemt, der in besagtem Dezember 1934 erfreulichen Besuch erhalten hatte: von eben erwähntem Jan Patočka aus Prag, von seinem engen Mitarbeiter Eugen Fink, und von einem jungen, hoffnungsvollen Medizinstudenten aus der Böcklinstraße, der am 27. Dezember eingetroffen war. »Auch war Hans Lassner aus Wien da«, schilderte Patočka Jahrzehnte später, »welcher viele kleine nette Aufnahmen von Husserl machte, die dann in Umlauf kamen.« Ursprünglich vage Pläne begannen sich nun während der Spaziergänge zu konkretisieren, wobei der engagierte Jungfotograf Lassner wertvolle Informationen seine Heimatstadt betreffend liefern konnte: »Husserls Reise nach Prag und Wien zu Vorträgen wurde damals beschlossen.« (Jan Patočka). Erwähnte Vorträge bildeten schließlich eine Grundlage zu Husserls letzter großer Arbeit Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936).
Die Wiener Reden fanden am 7. und 10. Mai 1935 auf Einladung des Wiener Kulturbundes statt, einer Institution, über deren Agieren im Schatten der deutschen Botschaft man übrigens gerne mehr erfahren würde. Der erste Termin war gar an Hans Lassners Geburtstag angesetzt – ein Zufall? Als Jugendlicher hatte er die Errichtung des Wittgenstein-Hauses in der nahen Kundmanngasse mitverfolgen können (nur die Rotundenbrücke musste überquert werden) – Wittgenstein, der einst als 22jähriger nach Deutschland reiste, um einen Logiker und Philosophen zu besuchen, Gottlob Frege nämlich. Nun befand sich also Hans Lassner im Umfeld eines berühmten Intellektuellen; er bewies mit seinen solidarischen Aktionen (die Reise in das von NS-Brutalitäten geprägte Freiburg – man lese dazu etwa Rüdiger Safranskis exzellente Heidegger-Biographie -, der Besuch eines Ausgegrenzten, die Wiener Vorträge) erheblichen Mut, der von einer bemerkenswerter Charakterstärke des damals erst 21jährigen Wieners zeugt. Wahrscheinlich wurde er auch – dies ist allerdings nur Spekulation – von seinem philanthropisch gesinnten Vater Theodor unterstützt, einem Manager (früher verwendete man hiefür das bescheidene Vokabel »Beamter«) und angesehenen Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde, der im Rahmen seiner Tätigkeit für die Baron Springer-Stiftung sehr viel für das jüdische Fürsorgewesen in Wien geleistet hat (ein Text zu Theodor Lassner folgt hier übrigens in Bälde, Anm.).
Im Sommersemester 1938 finden wir »Hans Lassner, mosaisch, wohnhaft Böcklinstraße 35« noch wie gewohnt an der medizinischen Fakultät der Universität Wien inskribiert. Die Auswertung der Wiener Meldezettel ergibt, dass er sich am 10. September 1938 nach Paris abgemeldet hat. Tatsächlich allerdings emigriert er offenbar via Zürich und Lausanne (wo er promoviert) in die Seine-Metropole. Er arbeitet im Rothschildspital, tritt 1939 in die französische Armee ein, knüpft 1940 Kontakt zu einer Widerstandsgruppe, wird 1941 verhaftet. Im selben Jahr gelingt es ihm, zu seinen nun im kalifornischen Exil lebenden Eltern zu flüchten, nicht ohne zuvor einen französischen Zollbeamten empört zu fragen: »Schämen sie sich nicht, diese Arbeit zu tun, obwohl sie neben General de Gaulle kämpfen könnten?“
Im Jänner 1942 schließlich heiratet der Wiener in Los Angeles die 24jährige Anwältin Colette Diamant-Berger, eine Tochter des ebenfalls emigrierten Pariser Filmregisseurs und -produzenten Henri Diamant-Berger, der unter anderem mehrere Jahre das Filmstudio in Billancourt geleitet und 1924/25 René Clairs Experimentalfilm Paris qui dort produziert hatte. Diamant-Berger war überdies publizistisch tätig gewesen: gemeinsam mit Louis Delluc, nach dem nun Frankreichs bedeutendster Filmpreis benannt ist, hatte er das ab 1916 regelmäßig publizierte Cineasten-Magazin Le Film herausgegeben – Louis Aragon schrieb dort, und Filmpionier Abel Gance. In der Wochenzeitschrift veröffentlichte 1917 auch Colette, die Ex-Geliebte des ab 1929 im Pratercottage ansässigen Auguste-Olympe Hériot, mehrere Texte. Diamant-Berger und Colette müssen sich übrigens gut verstanden haben, andernfalls hätte der Pariser ein Jahr später wohl kaum seiner Tochter diesen Namen gegeben. Während seines Exils in Los Angeles erhielt Diamant-Berger, wie ein US-Dokument belegt, zudem Hilfe von Filmstar Charles Boyer, einem belesenen Hobby-Violinisten, der vor den amerikanischen Behörden für den Aufenthaltsort seines Freundes bürgte.
Ebenso wie sein in Hollywood gestrandeter Schwiegervater engagierte sich der frisch vermählte Hans Lassner nun intensiv für Charles de Gaulles Forces francaises libres. Im Frühjahr 1942, mitten im 2. Weltkrieg, als der seit längerem von Hölderlin faszinierte Martin Heidegger in Freiburg Vorträge zu dessen Poem Der Ister (ein alter Name für die Donau) hält und die in Lassners langjährigem, dem Donaukanal benachbarten Wiener Wohnhaus (nun umfunktioniert zu einem Sammellager) lebenden österreichischen Juden deportiert und ermordet werden, nimmt der junge Mediziner Dienst im Spital der vor Neufundland gelegenen Inselgruppe Saint-Pierre-et-Miquelon auf, das Angehörige der de Gaulle’schen Marine versorgt. »Dort habe ich ihn kennen gelernt«, erzählte Francois Flohic in einer Hommage an den engen Freund. 1964, nun als de Gaulles Flügeladjutant, war der Admiral dem Mediziner wieder begegnet – in Paris, wo Lassner nach dem Krieg eine international herausragende Karriere als Anästhesist begründet und in jenem Ärzteteam mitgewirkt hatte, das die medial viel beachtete Prostata-Operation des Präsidenten durchführte. Obwohl Hans Lassner auch mit österreichischen Medizinern wie Karl Steinbereithner und Otto Mayrhofer-Krammel in engem, oft freundschaftlichen Kontakt stand und zum Ehrenmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie ernannt wurde, war sein Lebensmittelpunkt nun Frankreich geworden.
Ende Mai 2003 bekam der hochdekorierte (u. a. Kommandeur der französischen Ehrenlegion) und vielfach ausgezeichnete Spitzenmediziner Post aus dem Élysée-Palast:
Sehr geehrter Herr Professor,
als ich von den Würdigungen Ihrer Familie und Freunde anlässlich Ihres neunzigsten Geburtstages erfuhr, wollte ich mich daran beteiligen.
So richte ich an Sie – großer Arzt, der Sie sind – meine wärmsten Wünsche und versichere Sie meiner Bewunderung.
Sie werden von allen als der unbestrittene Meister im Bereich der Anästhesie und Intensivmedizin angesehen. Sie verdienen tatsächlich die tiefe Zuneigung und den großen Respekt Ihrer ehemaligen Studenten und Kollegen.
Ich möchte Sie auch der Dankbarkeit Ihrer Patienten versichern, insbesondere jener, um die Sie sich persönlich gekümmert haben. Die Hingabe, die Sie Ihren Patienten immer erwiesen haben, zeugt einmal mehr davon, dass ein großer Arzt auch ein großer Humanist sein muss.
Frankreich hat Recht getan, jenes Engagement, das Sie seit Ihrer Jugend gezeigt haben, zu ehren und anzuerkennen. Es ist im Namen Frankreichs, dass ich meinen Dank an Sie erneuere.Mit meiner wärmsten Dankbarkeit, Wertschätzung und Freundschaft,
Ihr ergebener
Jacques Chirac
Hans Lassner aus dem Pratercottage, geboren in der Laufbergergasse 6, ab 1919 wohnhaft in der Schüttelstraße 15 und danach in der Böcklinstraße 35 (1925-1938), er, der sich später Jean nannte und der anglikanischen Kirche beitrat, verstarb am 28. Juli 2007 in seinem Haus in Saint-Vincent-le-Paluel. Lassner hatte jene Männer, die mit ihm in diesen milden Wintertagen 1934/35 durch die schöne Freiburger Landschaft spaziert waren, um viele Jahre überlebt. Edmund Husserl verschied, nach unzähligen Schikanen durch die NS-Behörden und nachdem er aus seiner Wohnung vertrieben worden war, im April 1938 in Freiburg. Jan Patočka starb am 13. März 1977, zwei Monate nach Erscheinen der Charta 77, in Prag an den Folgen eines mehrstündigen, vom kommunistischen Regime angeordneten Verhörs. Eugen Fink entschlief 1975; Ernst Tugendhat, Philosoph und Urenkel von Bertha Wiedmann, in deren Pratervilla Hans (Jean) Lassner mit seinen Eltern bis 1938 gewohnt hatte, war sein – und auch Martin Heideggers – Student gewesen.
Regard sur l’anesthésie d’hier. Ernest Kern, Jean Lassner, Guy Vourc’h (Glyphe & Biotem éditions. Paris, 2003. Online als pdf in franz. und engl.)
Edmund Husserl, Briefwechsel (Kluwer. Den Haag, 1994)
Jan Patočka, Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte (Suhrkamp Verlag, 2010)
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit (Carl Hanser Verlag, 1994 bzw. Fischer Taschenbuch, 2001)
Francois Flohic, De Gaulle intime (Archipel. Paris, 2010)
Otto Mayrhofer-Krammel, Wie der Operationssaal seine Schrecken verlor (Maudrich Verlag. Wien, 2005)
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