Exkurs: Auf der Hohen Warte

Villa Auspitz, Hohe Warte, 1930
Thronend auf der Hohen Warte: Die Sommervilla des Wiener Bankiers und Kunstsammlers Stefan Auspitz, ca. 1930.

Als die Vorstellung an der Staatsoper ihrem Höhepunkt zustrebt, treibt der leblose Körper von Ludwig Schüller auf der dunklen Donau, vorbei an Klosterneuburg, langsam Richtung Wien. Es ist ein lauer Abend, der Samstag vor Pfingsten, warmer Föhnwind begleitet den träge fließenden Strom. Er habe Dr. Schüller noch um ca. 19 Uhr gesehen, wird später ein Angestellter der implodierten Privatbank zu Protokoll geben. Dr. Schüller, so der Angestellte – sein Name war Rudolf Szabo – weiter, hätte den Gastgarten eines Lokales nahe der Bahnstation Kritzendorf betreten, den Gruß des dort zufällig weilenden Szabo nur flüchtig erwidert, danach die Restauration unvermittelt wieder verlassen und sich zum Strandbad entfernt. Ein weiterer Zeuge wird die ermittelnden Behörden überdies auf einen Schuss aufmerksam machen, der um etwa 20 Uhr am Donauufer abgegeben worden sei. Besagter Zeuge habe dem jedoch keine Bedeutung beigemessen, da sich in in dieser Gegend schließlich auch mehrere Jagdreviere befänden.

In der Staatsoper senkt sich der Vorhang. Die Sopranistin Margit Schenker-Angerer, eben noch als Dorota in Schwanda, der Dudelsackpfeifer vom Auditorium beklatscht, begibt sich in ihre Garderobe. Jaromir Weinbergers neues Musiktheater hatte einige Monate zuvor seine Wiener Premiere erlebt, mit dem von Oskar Strnad entworfenen Bühnenbild, dem von Max Brod ins Deutsche übertragenen Libretto, der von Bronislava Nijinska entwickelten Choreographie. Die Produktion entpuppt sich als durchaus erfolgreich.

Ludwig Schüller
Selbstmord nach dem Bankencrash: Ludwig Schüller (1872–1931), der Kompagnon von Stefan (Stephan) Auspitz.

Es ist der 23. Mai 1931. Jener Tag, als sich offenbar das Gerücht verbreitete, der Bankier und Kunstsammler Stefan Auspitz-Artenegg habe bei der Wiener Salztorbrücke einen Selbstmordversuch unternommen. Jener Tag, als Auspitz‘ Kompagnon Ludwig Schüller um 11 Uhr das Büro verließ, nicht mehr in seine Wohnung zurückkehrte und bei Kritzendorf in den dunklen Wellen verschwand. Jener Tag, als diese beiden Gesellschafter des renommierten Bankhauses Auspitz, Lieben & Co. vor den Trümmern ihrer beruflichen Existenz standen [1]. Es waren waghalsige Spekulationen[2] an den internationalen Börsen, unter anderem durch eine Amsterdamer Zweigstelle, welche die neben dem Burgtheater, im Gründerzeit-Palais der berühmten Familien Auspitz und Lieben (Eingang Oppolzergasse 6), angesiedelte Finanzinstitution ins Trudeln gebracht hatten. Der ebenfalls im Mai 1931 erfolgte Zusammenbruch der riesigen Creditanstalt besiegelte schließlich auf dramatische Weise ihr Schicksal. »Er konnte den Bankrott der Firma, Verluste der Familie und der Freunde nicht ertragen«, erzählte Richard Schüller über seinen Bruder, den attraktiven, hochgewachsenen Ludwig, einen Juristen [3]. Gerty, Ludwigs verzweifelte Gattin, eine Tochter des 1909 verstorbenen, enorm reichen, enorm mächtigen Theodor Ritter von Taussig, dessen Boden-Credit-Anstalt einst die Wirtschaft der Donaumonarchie mitsteuerte, wird Tage später erfahren müssen, dass die sterblichen Überreste ihres Ehemannes in Ungarn aufgefunden wurden.

An diesen so katastrophalen Bankencrash dachte ich, als ich kürzlich durch das Wiener Villenviertel Hohe Warte (Döbling) spazierte. Ludwig Schüller, der hier zuletzt in Zusammenhang mit Peter Lorres Vater Lajos Löwenstein erwähnt wurde, und sein Bruder Richard, ein Wirtschaftswissenschaftler und bis zum »Anschluss« 1938 einflussreicher Spitzenbeamter der Ersten Republik, waren im Pratercottage über Jahrzehnte gut bekannt gewesen. Es gab auch verwandtschaftliche Beziehungen, etwa zu dem in der Böcklinstraße ansässigen Hormonforscher Eugen Steinach, einem Cousin von Richard Schüllers Gattin Erna. Der dritte im Bunde der 1931 vom Österreichischen Volkswirt als »ungewöhnlich begabt« beschriebenen, aus Brünn (Brno) stammenden Schüller-Brüder wiederum, Hugo, ein angesehener Urologe, war skandalträchtig von Lili Fanto geschieden worden: Die kapriziöse Tochter des Ölmagnaten David Fanto (Palais am Schwarzenbergplatz 6), hatte sich in den offenbar unwiderstehlichen Hermann Blau (Berndt) verliebt [4]. Blau allerdings war verheiratet gewesen – mit der schönen Hedwig Rosenthal, Erna Schüllers Schwester und somit ebenfalls Eugen Steinachs Cousine. Auch diese Ehe hatte natürlich das Zeitliche gesegnet, was vermutlich bei Steinach selbst wie auch bei seinen Kollegen in der Biologischen Versuchsanstalt (Vivarium, Prater) für Gesprächsstoff sorgte.

Werner Rosenberger-Hohe Warte

Ich dachte also, wie gesagt, an die Schüllers, die Banken und den großen Crash 1931, als ich schließlich durch die Wallmodengasse schlenderte. Meine Orientierungshilfe war Werner Rosenbergers neues Buch Auf der Hohen Warte. Flair und Mythos des berühmten Villenviertels (Metroverlag, 2015), glänzend geschrieben und auch für mich, eine geborene Wienerin, reich an neuen Erkenntnissen – ein Eye-opener, sozusagen. Das Buch hatte mich zum einstigen Israelitischen Blindeninstitut geführt und zu jenem Park, der die europaweit berühmten, von Nathaniel Rothschild angelegten Gärten beheimatete. Es hatte mir die ungewöhnliche Geschichte großartiger Villen näher gebracht, mir vom Eisenbahnpionier Rittershausen erzählt, von Sigmund Freud, Alma Mahler und Carl Moll. Nun stand ich vor der Villa Auspitz, Stefan Auspitz’ Land- und Sommerhaus, errichtet etwa ein Jahr vor dem Bankrott von Auspitz, Lieben & Co. – damals, als die Geschäfte noch gut liefen – und ein bemerkenswertes Beispiel für die Architektur der Moderne (Entwurf: Helmut Camillo Wagner­-Freynsheim). Ich blickte mich um und sah über die Straße nach rechts zur Villa Mendl – ihre Geschichte ist, wie Rosenberger kenntnisreich darlegt, mit jener legendären Industriellendynastie verknüpft, die 1891 das Backwarenunternehmen Ankerbrot gegründet hatte. Im Verwaltungsrat von Anker saß übrigens [5], was in diesem Blog noch thematisiert werden wird, auch der Anwalt Markus Preminger, Vater von Otto, dem berühmten Filmregisseur, und Nachbar von Richard Schüller im repräsentativen, nach dem 2. Weltkrieg abgerissenen Wohnhaus Universitätsring 10 (und ja, im Nachfolgebau befand sich die 1975 von Terroristen überfallene OPEC-Zentrale).

Dann schweifte mein Blick zu jener Straße, deren Name auf das noble, stille Villenviertel verweist. Ich schaute hinab zur Hohen Warte Nr. 52, zur ehemaligen Wohnstätte von Margit Schenker-Angerer. Vielleicht hatte sie am 23. Mai 1931, spätabends, nach ihrem Auftritt in der Staatsoper, zur nahen Villa Auspitz gespäht… Doch die Fenster, sie waren wohl dunkel geblieben.

[1] Siehe Compass, Finanzielles Jahrbuch 1931. Die Gesellschafter von Auspitz, Lieben und Co. waren Stefan Auspitz, Heinrich Lieben, Dr. Ludwig Schüller und Ludwig Zweig

[2] Siehe Der österreichische Volkswirt, 30. Mai 1931 (online auf ANNO)

[3] Jürgen Nautz (Hrsg.): Unterhändler des Vertrauens. Aus den nachgelassenen Schriften von Sektionschef Dr. Richard Schüller (Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 1990)

[4] Marjorie Perloff: The Vienna Paradox. A Memoir (New Directions, 2004). Voransicht der interessanten Erinnerungen von Perloff (geboren 1931 in Wien, angesehene Literaturtheoretikerin und Richard Schüllers Enkelin) online auf Google Books)

[5] Siehe z. B. Compass, Finanzielles Jahrbuch 1928