»Ich bin kein Held, ich bin Komponist.« Hanns Eisler, Schüttelstraße 19a (ab 1909)

Ich kenne den Mann recht gut, er ist hoch gebildet, geistvoll, im Gespräch sehr amüsant, und oft habe ich mich mit ihm, namentlich über Wagner, glänzend unterhalten. Als Musiker ist er, nach dem Urteil all seiner Kollegen, ersten Ranges.
– Thomas Mann über Hanns Eisler, 1947

Aber es ist wirklich zu dumm, dass erwachsene Menschen, Künstler, die wahrhaftig Besseres zu sagen haben sollten, sich mit Weltverbesserungstheorien einlassen, obwohl man ja aus der Geschichte wissen kann, wie all das ausgeht. Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich ihn wie einen dummen Jungen übers Knie legen und ihm 25 heruntermessen und ihn versprechen lassen, dass er nie mehr seinen Mund aufmacht und sich auf Notenschreiben beschränkt. Dafür hat er Talent und das andere soll er andern überlassen.
– Arnold Schönberg über Hanns Eisler nach dessen Verhör vor dem House Committee on Un-American Activities, 1947

Laut Charlie Chaplin wie einem Shakespeare’schen Königsdrama entsprungen: Die
Geschwister Hanns, Ruth Elfriede und Gerhart Eisler.

Es war die eigene Schwester. Als die einst linksradikale und 1936 von Stalin zum Tode verurteilte Elfriede Friedländer (geb. Eisler, Kampfname: Ruth Fischer, weitere Decknamen siehe hier) 1947 vor dem House Committee on Un-American Activities (HCUA) erschien und ihre Brüder Hanns (Komponist und langjähriger künstlerischer Partner von Bertolt Brecht) und Gerhart (bis zur Machtübernahme durch die Nazis bekannter Funktionär der deutschen KP) beschuldigte, in den USA als kommunistische Spione tätig zu sein, war dies nicht nur der Startschuss für die Verfolgung unzähliger Hollywood-Größen wie etwa Charlie Chaplin (er war mit Hanns Eisler eng befreundet und wählte schließlich den Gang ins Schweizer Exil), nein: Elfriedes Aussagen sind wohl auch als absurder Höhepunkt einer innerfamiliären Entwicklung zu sehen, die ihren Anfang im Gebäude Schüttelstraße 19a genommen hatte.

Hanns Eisler vor dem House Committee on Un-American Activities, 1947.

In dieses 1885/86 erbaute Haus – aktuell eines der ältesten am Schüttel – waren der Philosoph Rudolf Eisler, seine Gattin Ida Maria Fischer und deren in Leipzig geborene Kinder Ruth Elfriede (genannt Fritzi, geb. 1895), Gerhart (geb. 1897) und Johannes (genannt Hanns, geb. 1898) 1909 übersiedelt (in Lehmanns Adressbuch ist man ab 1911 gelistet). Die Familie bewegte sich zweifelsohne im Spannungsfeld höchst konträrer gesellschaftlicher Umfelder: Rudolf Eislers Vater war wohlhabender Tuchfabrikant mit Stammsitzen in Wien und Prag sowie einer prachtvollen Wohnung am noblen Pariser Boulevard Saint-Germain, Gattin Ida hingegen die Tochter eines in einer Leipziger Fleischfabrik beschäftigten Arbeiters. Ein Gegensatz, der sich verblüffenderweise auch rund um die neue Wohnung in der Schüttelstraße finden ließ: Nummer 19a war nicht nur von Villen umgeben, im Gegenteil. Das Haus grenzte am Donaukanal an die Schöller’sche Dampfmühle und war gleichzeitig auch Teil des Reitstalls Neuer Wiener Tattersall, der sich bis zur Rustenschacherallee (damals Prinzenallee) erstreckte. Zudem gab es im Gebäude offenbar »Kutscherwohnungen«. An der Fassade waren stilisierte Pferdeköpfe angebracht, die nach 1945 gemäß baupolizeilicher Anordnung (leider) entfernt wurden.

Schwieriger Alltag

Der Alltag war für die Familie jedenfalls alles andere als einfach zu bewältigen: Eisler, ein Jude und überdies demonstrativ atheistisch, bekam keine Professur und war daher auch auf finanzielle Zuwendungen des in Paris lebenden Bruders Armand angewiesen. Über das Gedankengebäude seines linksliberalen Vaters, der mit dem Wörterbuch der philosophischen Begriffe (1899-1904) ein Standardwerk verfasste und auch Texte für die Neue Freie Presse schrieb, meinte Hanns Eisler einmal: »Mein Vater ist Neukantianer, der sich seine Lebzeit bemühte, Idealismus mit Materialismus zu versöhnen«, und fügte hinzu, nach Rudolf Eisler hätte Brecht auch die Figur des Lehrers Wessowitschkow modelliert (Die Mutter, Uraufführung 1932 in Berlin): »Ich gab Brecht diesen Bericht über meinen Vater.« Doch Rudolf Eisler war nicht nur ein der Ratio verpflichteter Denker, er liebte auch die Musik. Viele Jahre später, in Ostberlin, meinte Sohn Gerhart, die Eislers wären eine sehr musikalische Familie gewesen: »Vater saß ständig am Schreibtisch und kannte nur eine Erholung: Klavier zu spielen und zu singen – Hugo Wolf, Schubert, Volkslieder, Opernausschnitte.« Und Hanns präzisierte: »Vater war Mozartianer, konnte mit Wagner nichts anfangen.«

Ein Klavier besaß man während des Aufenthalts in der Schüttelstraße allerdings nicht. Hanns, der Klavierstunden nahm und laut eigenen Angaben »mit 10, 11 Jahren« zu komponieren begonnen hatte, war daher gezwungen, sich bei finanziell besser situierten Schulkollegen einzuladen und in deren Wohnung seine Werke fertig zu stellen. In jener Zeit, 1913/14, entstanden auch erste sinfonische Dichtungen, deren Partituren allerdings verschollen sind.

Von Hanns Eislers Biographen Manfred Grabs und Jürgen Schebera nicht erwähnt wurde ein Komponist, der gar in direkter Nachbarschaft, in der Josef-Gall-Gasse nämlich, wohnte: Karl Goldmark, ein in jener Zeit ungemein erfolgreicher Spätromatiker und Star der Wiener Musikszene. Am Tag seines Begräbnisses im Jänner 1915 wäre die Straße vor Goldmarks Wohnung »schwarz von Fiakern und Menschen« gewesen, notierte Elias Canetti (1905-1994) – er wohnte seit 1913 ein Stockwerk über Goldmark – in seiner Autobiographie Die gerettete Zunge. Schwer vorstellbar, dass die ums Eck logierende Familie Eisler davon nichts mitbekommen hätte. War auch Hanns ein neugieriger Zaungast dieser öffentlichen Anteilnahme am Tod des Komponisten? Es bleibt Spekulation, ist aber durchaus vorstellbar; den kleinen Elias wird er jedenfalls wohl öfter gesehen haben, sei es auf der Straße oder im nahen Prater. [Jahrzehnte später bewegten sich die beiden übrigens in einem gemeinsamen Freundeskreis.]

Mit Jascha Horenstein auf der Jesuitenwiese

Dort, auf der Jesuitenwiese, waren die Eisler-Kinder häufig zu finden. Zu ihren Lieblingsbeschäftigungen zählte etwa das »Nibelungen-Spiel«, »Fritzi, Hanns und ich als Kriemhild, Siegfried und Gunther« (Gerhart Eisler), was angesichts der später zunehmend problematischen Beziehung der Geschwister fast wie eine Prophezeiung anmutet. Um 1913 traf Hanns Eisler auf der Jesuitenwiese schließlich auf einen Teenager, der in der nahen Löwengasse wohnte und nicht nur ein enger Freund, sondern auch ein musikalischer Partner werden sollte: Jascha Horenstein (1898-1973), der als Dirigent wesentlich zur Wiederentdeckung von Gustav Mahler im angelsächsischen Raum beitragen sollte und von dem Alex Ross 1994 in der New York Times schrieb, er wäre nun, mehr als zwei Jahrzehnte nach seinem Tod, »a major cult hero«, sei womöglich der beste Mahler-Dirigent überhaupt gewesen.

Jascha Horenstein und das London Symphony Orchestra mit Mahlers 3. Symphonie, 1. Satz.

»Es ist vielleicht bezeichnend, dass meine erste Begegnung mit Hanns auf dem Fußballplatz im Prater stattfand.« erzählte Horenstein einmal. »Die meisten jungen Menschen meiner Generation hatten sich damals auf der vierten Galerie der Hofoper oder im Stehparterre des Musikvereinsaales kennen gelernt. Hanns und ich waren zwar Mitschüler desselben Gymnasiums, aber wir waren getrennt, in Parallelklassen, wir kannten einander nicht. Die Begeisterung für den Fußball führte uns zueinander.« »Er war zwar klein,« meinte Bruder Gerhart über den sportbegeisterten Hanns, »aber ein leidenschaftlicher Fußballer und schwänzte auch die Schule, um Fußball zu spielen auf der Jesuitenwiese im Prater.« Wenig verwunderlich, dass sich dieses Engagement auch in Hanns‘ schulischen Leistungen widerspiegelte: 1914/15 erreichte er in allen Fächern außer Turnen (»Gut«) bloß »Genügend«.

>Hausdurchsuchung in der Schüttelstraße

In der Schüttelstraße taten sich für den fußballbegeisterten Nachwuchskomponisten parallel dazu zusätzlichen Welten auf. Fritzi schloss sich als Gymnasiastin der bürgerlich-jüdischen Organisation »Freideutsche Jugendbewegung«, die nationalkommunistische Ideen vertrat, an (und trat 1914 in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei ein). Gerhart wandte sich ebenfalls der Linken zu, und 1913 schließlich, als 15jähriger, begann, beeinflusst vom älteren Bruder, auch Hanns aktiv politisch tätig zu werden. Die drei Jugendlichen waren gemeinsam etwa mit Arnolt Bronnen (1895-1959) Teil von Siegfried Bernfelds »Sprechsaal«-Bewegung und bauten in der elterlichen Wohnung eine Mini-Widerstandsbewegung auf, wobei Gerhart mit der kurzlebigen Zeitschrift Jugendprobleme, die er ab 1914 gemeinsam mit anderen Gymnasiasten herausgab, wohl das Kommando über hatte. Die Redaktion von Jugendprobleme war im Eisler’schen Haushalt angesiedelt (im Impressum stand: »Beiträge für die Jugendprobleme sind zu senden an Gerhart Eisler, Wien II, Schüttelstraße 19a«), weswegen wohl auch genau dort ein Polizeieinsatz erfolgen sollte: Als im Sommer 1914 der 1. Weltkrieg ausbrach, reagierte Gerhart mit einer Ausgabe der Jugendprobleme, die er »Antikriegsheft« nannte. Es wurde sofort konfisziert, eine Hausdurchsuchung bei Rudolf Eisler vorgenommen und Unterlagen der beiden Söhne zum Teil beschlagnahmt. Trotz dieses vereinten Widerstands ging der Krieg selbstverständlich unvermindert weiter und 1916, ein Jahr vor der Matura, wurde schließlich auch Hanns Eisler einberufen. In diesem Jahr übersiedelte Rudolf Eisler mit seiner Familie in die Sebastian-Kneipp-Gasse – der Aufenthalt in der Schüttelstraße war nun Geschichte.

Stalin, Hollywood, Ostberlin

Dass Gerhart, der ebenfalls als Soldat am 1. Weltkrieg teilnahm, und Elfriede 1918 die Kommunistische Partei Österreichs mitbegründeten (Elfriede hatte die Mitgliedsnummer 1) erwies sich angesichts der weiteren Lebenslinien der drei Geschwister als bloß marginale Fußnote:

Elfriede Eisler (1895-1961) – »eigenwillig, übergescheit, gleichzeitig frauenrechtlerisch, auf Männer aus« (Otto Leichter, 1973) – stand 1924 an der Spitze der deutschen Kommunisten; wurde dann als Abweichlerin aus der Partei ausgeschlossen; verbrachte einige Monate als Stalins Gefangene im berühmt-berüchtigten Moskauer Hotel Lux; entkam nach Deutschland; wurde von den Nazis ausgebürgert; arbeitete in Frankreich mit Trotzki zusammen; wurde von Stalin in Abwesenheit zum Tode verurteilt; floh, verfolgt von Nazis und Kommunisten, in die USA; und begann nach dem mysteriösen Tod ihres Lebensgefährten Arkadi Maslow (er wurde in Havanna bewusstlos auf der Straße gefunden und verstarb kurz danach) ihren Kampf gegen die Stalinisten, in dessen Verlauf sie nicht nur als zentrale Agentin des US-Geheimdienstes tätig war, sondern, siehe oben, auch die eigenen Brüder dem HCUA meldete.

Gerhart Eisler (1897-1968) zählte bis Ende der 1920er Jahre zu den einflussreichsten deutschen Kommunisten; wurde nach einem verlorenen Machtkampf für mehrere Jahre nach China versetzt; lebte im Auftrag der KP als illegaler Einwanderer in den USA; wurde während eines Frankreich-Aufenthaltes von den Nazis verhaftet; verbrachte drei Jahre in einem französischen Internierungslager; konnte in die USA emigrieren; floh nach Elfriedes öffentlichen Anschuldigungen nach Berlin; wurde ins Zentralkomitee der SED gewählt; hatte eine führende Rolle im DDR-Propagandaapparat inne; und befehligte bis zu seinem Tod das staatliche Fernsehen.

Das Haus Schüttelstraße 19a im Jänner 2011.

Hanns Eisler (1898-1962) schließlich war ein Lieblingsschüler von Arnold Schönberg; entfernte sich in den 1920er Jahren vom bürgerlichen Konzertbetrieb; komponierte sozialistische Kampflieder; begann die Zusammenarbeit mit Brecht und dem linken holländischen Filmemacher Joris Ivens; wechselte nach der Machtergreifung der Nazis 1933 in rascher Folge seine Aufenthaltsorte (Wien, Frankreich, Dänemark, Großbritannien); emigrierte in die USA; arbeitete dort als Filmkomponist unter anderem mit Joseph Losey, Fritz Lang, Clifford Odets, Douglas Sirk und Jean Renoir; wurde zwei Mal für den Oscar nominiert; schrieb im Auftrag von Charlie Chaplin 1947 die Musik für eine neue Tonfassung von Der Zirkus (The Circus, 1928), konnte diese aber nicht vollenden; sah sich nach den Aussagen seiner Schwester mit einer Kampagne gegen sich konfrontiert und wurde vom HCUA einem mehrtägigen Verhör unterzogen; wurde – trotz Solidaritätsaktionen von Albert Einstein, Thomas Mann, Pablo Picasso und Leonard Bernstein – aus den USA ausgewiesen; lebte in Ostberlin und komponierte die Nationalhymne der DDR; löste die sogenannte »Faustus-Debatte« aus; gab nie seine österreichische Staatsbürgerschaft auf. Und erlebte die Scheidung von seiner Frau Lou, die sich in den kommunistischen Publizisten Ernst Fischer verliebt hatte. Die beiden wohnten danach mehrere Jahre in einer Villa in der Rustenschacherallee 28 – nicht weit entfernt von jenem alten Haus am Schüttel, wo alles begann.

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