Unser Haus war das Eckhaus der Joseph-Gall-Gasse, Nr. 5, wir wohnten im zweiten Stock, zu unserer Linken trennte ein unbebauter Platz, der nicht sehr groß war, das Haus von der Prinzenallee, die schon zum Prater gehörte. Die Zimmer gingen teils auf die Joseph-Gall-Gasse, teils nach Westen auf den unbebauten Platz und die Bäume des Praters. An der Ecke befand sich ein runder Balkon, der die beiden Seiten verband. Von ihm aus sahen wir den Untergang der Sonne, die uns rot und groß sehr vertraut wurde und meinen kleinsten Bruder Georg auf eine besondere Weise anzog. (…)
Einen Stock tiefer, genau unter uns, wohnte der Komponist Carl Goldmark, ein kleiner, zarter Mann mit schöngescheitelten, weißen Haaren zu beiden Seiten seines dunklen Gesichts. (…)
Am Tage des Begräbnisses war die Joseph-Gall-Gasse schwarz von Fiakern und Menschen. Wir sahen von oben aus dem Fenster zu, wir dachten, dass kein Fleckchen unten mehr frei sei, aber es kamen immer neue Fiaker und Menschen dazu und fanden doch Platz. „Wo kommen die nur alle her?“ „Das ist so, wenn ein berühmter Mann stirbt“, sagte Paula. „Die wollen ihm alle das letzte Geleit geben. Die haben seine Musik so gern.“
(Text: Elias Canetti: Die gerettete Zunge, Hanser Verlag, 1977. Fotos: Elias Canetti. Bilder aus seinem Leben, Hrsg. Kristian Wachinger, Hanser Verlag, 2005)
Canetti irrte sich. Es ist mir schon aufgefallen, als ich „Die gerettete Zunge“ zum ersten Mal gelesen habe. Anhand der Fotografie ist es eindeutig: Vom Balkon aus kann er nur die aufgehende Sonne gesehen haben. Er sieht nach Osten. Da wir selbst in der Böcklinstraße Nr. 24 wohnen, ist ein Irrtum unsererseits ausgeschlossen.Danke für die wunderbare Homepage!
Ja, mich hat diese Bemerkung von Canetti ebenfalls beschäftigt. Herzlichen Dank für den netten Kommentar!
Pingback: Moritz Hirschl und der Kampf um die Schüttelstraße, 1872
Pingback: Gustav Mahlers Hofopernsemble: Vorschau auf Alexander Haydter, Böcklinstraße 90 (ca. 1906-1909)