Spurensuche im Neuen Wiener Tattersall: Die Tragödie der Familie Schlesinger, Schüttelstraße 19a/Böcklinstraße 24 (1885-1938)

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Diese Aufnahme entstand am 19. März 1927: Teilnehmer des sogenannten Schlusskarussells, einer Reitsportveranstaltung, versammeln sich vor dem Neuen Wiener Tattersall. Im Hintergrund ist die Rustenschacherallee mit dem Clubhaus des Wiener Parkclubs zu sehen.

Loos kannte den jüdischen Besitzer des Tattersalls. Meine Mutter ging mit Loos zu ihm und brachte den Kaufpreis. Ich hatte kürzlich die Windsbraut an einen Hamburger Apotheker verkauft; die Summe genügte gerade für ein Pferd.
Oskar Kokoschka, Mein Leben. Bruckmann, 1971

Als Ann M. Lingg, wohnhaft im New Yorker Stadtteil Manhattan, im Mai 1995 verstarb, war dies für die New York Times Anlass, dazu eine Meldung ins Blatt zu rücken: Sie veröffentlichte einen kurzen Nachruf auf die renommierte Musikwissenschaftlerin, die unter anderem für das Magazin der Metropolitan Opera schrieb. Doch die Wurzeln der so Gewürdigten befinden sich in Wien: Ann M. Lingg – das war Anny Schlesinger, geboren in der Donaumetropole, Enkelin von Wilhelm Schlesinger, dem k.u.k. Hoflieferanten, Pferdehändler und Besitzer des Neuen Wiener Tattersalls in der Schüttelstraße 19a. Lingg, verheiratete Lessner, war von 1956 bis 1978 als letztes Familienmitglied Miteigentümerin dieser Liegenschaft, die im 19. Jahrhundert von ihren Vorfahren erworben wurde. Das Haus Nr. 19a – es zählt zu den ältesten Gebäuden im Pratercottage … WEITERLESEN.

Wagner, Vogue und Jesuitenwiese: Rositta Gutmann, Rustenschacherallee Nr. 28; Nr. 32-36; Nr. 40 und Böcklinstraße Nr. 55 (1912-1938)

Kühle Grandezza, umflort von Melancholie: Rositta Gutmann in der deutschen Vogue vom April 1929. Foto: Edith Barakovich.

Ende der 1920er Jahre wagte der renommierte US-Verlag Condé Nast ein Experiment: Sein Style-Flaggschiff, die Modezeitschrift Vogue, sollte nun auch in einer deutschen Ausgabe erscheinen. Die Redaktion wurde, wenig überraschend, im pulsierenden Berlin angesiedelt und das erste Magazin im April 1928 auf den Markt gebracht. Exakt ein Jahr später, am 10. April 1929, erschien man mit einem Heft, das schwerpunktmäßig neuen Autos und cooler Hutmode gewidmet war. Dem entsprechend zeigte auch Pierre Morgues Coverillustration eine sehr selbstbewusste Frau am Steuer. Dies bildete also den Rahmen für obiges Portrait von Rositta Gutmann, das auf Seite 8 zu finden ist. Geschaffen wurde es von Edith Barakovich (geb. 1896 in Zemun, damals ein Grenzort der Donaumonarchie, heute ein Stadtbezirk von Belgrad), jener jungen talentierten Wiener Fotografin, die gemeinsam u. a. mit Trude Fleischmann und ihrer Lehrmeisterin Dora Kallmus (Madame d’Ora) die traditionell männliche Szene der heimischen Lichtbildner seit längerem heftig durcheinander wirbelte. Barakovich, deren Atelier sich in Wien 4, Prinz-Eugen-Straße 30 befand, muss diese Veröffentlichung jedenfalls zu ihren Karrierehöhepunkten gezählt haben – für die Vogue (deren dt. Version Teile der US-Ausgabe übernahm) fotografierten bekanntlich internationale … WEITERLESEN.

Das Kornhäusel-Palais am Schüttel, 1901

Willkommen im Tiergarten-Museum: Das mittlerweile abgerissene Gartenpalais Liechtenstein am Schüttel. Foto: Wiener Bauindustrie-Zeitung, 1901.

1900 spazierte der Wiener Architekt und viel beschäftigte Publizist Hartwig Fischel am Schüttel entlang. Seine Aufmerksamkeit galt einem sehr speziellen Bau: »Obwohl er heute mitten unter den Baulichkeiten des Wiener Tiergartens ein wenig beachtetes Dasein führt, war er einst ein vereinzelter, weit hinausgeschobener Vorposten vornehmer Wohnbedürfnisse. Ein ansehnlicher Garten erstreckte sich bis zu dem verschütteten Donauarm und der Ausblick in die Praterlandschaft war durch keinen Vorbau behindert.«

Bei der »wenig beachteten« Villa handelte es sich um das von Joseph Kornhäusel entworfene Gartenpalais Liechtenstein. Dazu schwieg sich der Verfasser verblüffenderweise aus. Nahm er dieses Wissen als gegeben an? Vielleicht. In Fischels interessanter Analyse, die am 7. Februar 1901 in der Wiener Bauindustrie-Zeitung erschien, werden jedenfalls weder Architekt noch ursprüngliche Besitzer erwähnt. Der zweiseitige, um historischen Kontext bemühte Artikel ist hier zu finden. Wie auf dem obigen Foto ersichtlich, fungierte das elegante Gebäude einst sogar als »Tiergarten-Museum«.

Hartwig Fischel selbst, der u. a. für die damals jung verwitwete Alma Mahler eine Villa in Breitenstein am Semmering entwarf, musste, hochbetagt, 1938 vor den Nazis fliehen und starb 1942 im Alter von 81 Jahren in London.

Die Kunstsammler in der Pratervilla. Leo und Helene Hecht, Laufbergergasse 12 (1930-1938)

Links: Balthasar Riepp, Salomon und die Königin von Saba. Rechts: Die Villa Hecht, vormals Villa Harnoncourt, in der Laufbergergasse. Die Aufnahme stammt aus 1891.

Der Firmensitz befand sich in der Hinteren Zollamtstraße, im Eckhaus Nr. 9. Es war ein quirliges Viertel, mit den Landstraßer Markthallen, dem nahen Hauptgebäude der Donau-Dampfschifffahrts-Gesellschaft, dem wuchtigen, vis-a-vis emporragenden Hauptzollamt, der Radetzkyschule auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Unter die unzähligen Jugendlichen, die, ausgerüstet mit Taschen, Lexika und Jausenbroten, fröhlich lärmend diese Gassen bevölkerten, reihte bis zu seiner Matura 1929 auch Bruno Kreisky. Aber er, der in seinem Büro saß und sich mit langen Zahlenkolonnen beschäftigte, mit Einnahmen und Ausgaben, mit Kauf und Verkauf, hatte vermutlich kein Auge für den hoffnungsvollen Nachwuchs. Er war ein viel beschäftigter Mann, ein erfolgreicher Großhändler für Leder und Felle, der zudem seine Aufgabe als Vize-Präsident der Häute- und Felle-Industrie korrekt wahrzunehmen trachtete.

Bis 1930 hatte er in der Weyrgasse 6 gelebt, in einem repräsentativen, den Esteplatz begrenzenden Gründerzeit-Bau. Der Fußweg zu seinem Büro war unaufwändig gewesen, nur zehn Minuten, nicht mehr. Doch auch das neue Heim, das er nun mit seiner Frau bewohnte, war durchaus im näheren Umkreis angesiedelt. Am Rande des Praters gelegen, präsentierte sich die … WEITERLESEN.

Der melancholische Schmerzensmann der Belle Époque. Auguste-Olympe Hériot, Rustenschacherallee 30 (ab 1929)

Auguste-Olympe Hériots Wurzeln und die Quelle seines Reichtums: Das Pariser Großkaufhaus Grands Magasins du Louvre. Hier schlug die Geburtsstunde der Konsumgesellschaft.

Noch während 2011 mehrere britische Städte von abrupten und sehr heftigen Ausschreitungen erschüttert wurden, publizierte Zygmunt Bauman einen viel beachteten Essay. Seine Kernthese: »These are riots of defective and disqualified consumers.« Ob man ihm nun zustimmt oder nicht – der renommierte Philosoph und Soziologe eröffnete damit jedenfalls eine interessante Debatte über die soziokulturellen Auswirkungen der Konsumgesellschaft, die in den kommenden Jahren an Intensität wohl zunehmen wird.

Warum dieser die aktuelle Politik betreffende Verweis hier, in einem Text über Auguste-Olympe Hériot, zu finden ist? Nun, sobald man sich auf dessen Spuren begibt, stösst man unweigerlich auf Émile Zolas Das Paradies der Damen (Au Bonheur des Dames). Der umfangreich, auch anhand vieler Interviews, recherchierte und 1883 erschienene Roman rund um ein Pariser Warenhaus enthält nicht nur wesentliche Elemente der Hériot’schen Familienchronik, sondern entpuppt sich überdies als verblüffend scharfsichtiges Porträt einer Gesellschaft, die, gesteuert durch ausgefeilte Verkaufstechniken, sich einem ungehemmten Shoppingwahn hingibt. Vieles, allzu vieles klingt hier höchst vertraut: »Endlich wurde geöffnet, und der Strom der Kunden setzte ein. Gleich in der ersten Stunde, noch ehe die dahinter … WEITERLESEN.

Der Traum von Eretz Israel. Oskar Marmorek, Bauherr und Architekt der Häuser Böcklinstraße 59, 61, 63

Führende Zionisten und enge Freunde: Oskar Marmorek (1863-1909) und Theodor Herzl (1860-1904).

»Das ist das Bauamt,« sagte David. »Hier haust Steineck, unser erster Architekt. Von ihm ist der Stadtplan entworfen worden.«
»Der Mann hat eine große Aufgabe,« sprach Friedrich.
»Groß, jawohl, aber auch freudig. Er durfte aus dem Vollen schaffen, wie übrigens wir alle. Nie in der Geschichte sind Städte so rasch und herrlich erbaut worden wie bei uns, weil man nie vorher solche technischen Mittel zur Verfügung hatte.«
Theodor Herzl, Altneuland, 1902

Ein Jahr, bevor sein Haus in der ruhigen Straße zwischen Donaukanal und Prater errichtet wurde, hatte er noch eine flammende Rede gehalten. Es war am 23. August 1903, beim 6. Zionistenkongress in Basel, als Oskar Marmorek, begleitet von lebhaftem Beifall und Händeklatschen, nach der Einführung von Theodor Herzl das Wort ergriff. »Die zionistische Volksbewegung steht im innigen Kontakt mit dem Leben, den Leiden und Freuden des jüdischen Volkes, und diese sind es, welche seine Tätigkeit und Bemühungen bestimmen und dirigieren,« donnerte der im galizischen Pieskowa Skała geborene und seit 1875 in Wien ansässige Architekt in den Saal. »Noch auf dem ersten Kongresse konnte der große Schilderer der Lage der Juden seinem düsteren Bilde einige, wenn auch … WEITERLESEN.

Exkurs: Chic Parisien, die Familie Bachwitz und Albert Einstein. Löwengasse 47 (1938)

Der Hauptsitz von Chic Parisien in der Löwengasse. Studiert man die Illustration in höherer Auflösung, so wird gut ersichtlich, dass der Name des Verlages auch prominent am Dachfirst angebracht war. (1914)

Wie im Text über Ea von Allesch erwähnt, erinnert nichts mehr an die ursprüngliche Bestimmung des Palais des Beaux Arts in der Löwengasse 47. Dass hier mit der Chic Parisien Bachwitz AG ein auf Modethemen spezialisierter und international tätiger Verlag residierte (daher auch die repräsentativen, auf dem Gebäude thronenden Weltkugeln), dass an diesem Ort etwa 50 Zeitschriften, teilweise in dreisprachigen Ausgaben, produziert wurden – selbst einem Großteil der Anrainer ist dies nicht bekannt. Dass besagtes Haus 1908/09 im Auftrag von Arnold Bachwitz (1854-1930), dem Besitzer von Chic Parisien, erbaut wurde, ebensowenig. Daher folgen nun mehrere Links, die auf das tragische Schicksal der Familie Bachwitz verweisen, auf das Schicksal einer Familie, deren einstiger Hauptsitz nach wie vor das ihn umgebende Viertel (trotz des in der Nähe angesiedelten Hundertwasser-Hauses) auf so bemerkenswerte Weise prägt.

Rosine Bachwitz (geb. 1863), Arnolds Witwe, wurde 1942 im KZ Theresienstadt ermordet. Die israelische Holocaust-Gedenkstelle Yad Vashem hat ein ihr gewidmetes Gedenkblatt online gestellt: Gedenkblatt Rosine Bachwitz

Alice Strel, Pianistin und Tochter von Arnold und Rosine … WEITERLESEN.

Der Mann, der Yeats verjüngte. Eugen Steinach, Böcklinstraße 51, 53, 94 (1912-1938)

Eugen Steinach, 1861-1944

Who can know the year, my dear,
when an old man’s blood grows cold?
– W. B. Yeats,
The Wild Old Wicked Man, 1937

»Ich habe es machen lassen.« berichtete W. B. Yeats im Frühsommer 1934 begeistert einem erstaunten Dubliner Freund. Mit »es« spielte der damals 69-jährige Nobelpreisträger auf jene Operation an, die ihm, der mit dem Alterungsprozess nur schwer zurechtkam (»That is no country for old men« klagte er etwa 1928 in Sailing to Byzantinum), erneut erotische Höhenflüge ermöglichen sollte: Eine Vasektomie, ausgeführt durch den flamboyanten Sexologen Norman Haire in London. Als praktischer Nebeneffekt würde sich zudem der hohe Blutdruck des Dichters senken. Yeats war also, wenig überraschend, bester Dinge und ließ sich auch durch spitze Bemerkungen fehlinformierter Zeitgenossen nicht aus der Ruhe bringen: Das sei doch, als würde man einen Cadillac-Motor in einen Ford einbauen, witzelte etwa Schriftstellerkollege Frank O’Connor.

Doch tatsächlich hatte der notorische Womanizer Yeats, erstens, sich eben nicht, wie O’Connor vermutete, Affendrüsen transplantieren lassen (damals ebenfalls à la mode), und, zweitens, in jenen fünf Jahren zwischen dem oben geschilderten Eingriff und seinem Tod noch vier ernsthafte sexuelle Beziehungen. Eine der Frauen, die linke, mit dem Anarchismus sympathisierende Autorin Ethel WEITERLESEN.