Loos kannte den jüdischen Besitzer des Tattersalls. Meine Mutter ging mit Loos zu ihm und brachte den Kaufpreis. Ich hatte kürzlich die Windsbraut an einen Hamburger Apotheker verkauft; die Summe genügte gerade für ein Pferd.
Oskar Kokoschka, Mein Leben. Bruckmann, 1971
Als Ann M. Lingg, wohnhaft im New Yorker Stadtteil Manhattan, im Mai 1995 verstarb, war dies für die New York Times Anlass, dazu eine Meldung ins Blatt zu rücken: Sie veröffentlichte einen kurzen Nachruf auf die renommierte Musikwissenschaftlerin, die unter anderem für das Magazin der Metropolitan Opera schrieb. Doch die Wurzeln der so Gewürdigten befinden sich in Wien: Ann M. Lingg – das war Anny Schlesinger, geboren in der Donaumetropole, Enkelin von Wilhelm Schlesinger, dem k.u.k. Hoflieferanten, Pferdehändler und Besitzer des Neuen Wiener Tattersalls in der Schüttelstraße 19a. Lingg, verheiratete Lessner, war von 1956 bis 1978 als letztes Familienmitglied Miteigentümerin dieser Liegenschaft, die im 19. Jahrhundert von ihren Vorfahren erworben wurde. Das Haus Nr. 19a – es zählt zu den ältesten Gebäuden im Pratercottage und beherbergte einst auch eines der bevorzugten Reitinstitute des Wiener Bürgertums, – lässt sich mit der österreichischen Kultur- und Geistesgeschichte verknüpfen, ist ebenso jedoch überschattet von Enteignung und seltsamen Vorgängen in der heimischen Nachkriegsjustiz. Selbst ein späterer Bundespräsident findet sich in den Akten. All diese losen Erzählstränge, sie sollen nun zusammengeführt werden.
Morgens ritt er, zweimal wöchentlich, und musste dazu weit fahren, bis in die Gegend seines ehemaligen Gymnasiums; dort war der Tattersall, in der Nähe des Praters. Hier hatte Ernst das Reiten erst richtig erlernt, mit sechzehn, als er 1909 in die siebente Gymnasialklasse aufrückte.
Heimito von Doderer, Der Grenzwald
Im Oktober 1885 wurde die p.t. Leserschaft des Bautechnikers, einer Fachzeitschrift für das Ingenieurswesen, mit aufschlussreichen Informationen versorgt. Nicht nur planten die Gebrüder Thonet Renovierungen an ihrem Haus Kaiser-Josefstraße 40 (heute: Heinestraße) vorzunehmen, nein: auch Wilhelm Schlesinger wälzte große Pläne – er hatte um die Bewilligung für einen Hausbau in der Schüttelstraße angesucht.
Der Pferdehändler war in der Praterstraße Nr. 54 angesiedelt gewesen, dort, wo einige Jahre zuvor Johann Strauss Sohn mit seiner Gattin Jetty residiert und den Donauwalzer komponiert hatte, dort, wo sich auch der Wiener Tattersall des Hoflieferanten Moriz Strass befand. Nun also errichtete Wilhelm Schlesinger einen riesigen Gebäudekomplex am Donaukanal, und zwar für sein eigenes Unternehmen Neuer Wiener Tattersall. Wie kam es dazu? Schlesinger muss ein höchst rühriger Manager gewesen sein. Im boomenden Wien der Gründerzeit gab es unzählige Pferdehändler, viele von ihnen betrieben überdies rund um den Prater ihre Lokalitäten. Angesichts dieser enormen Konkurrenz zum k. u. k. Hoflieferanten aufzusteigen, wie es auch Schlesinger gelang, zeugt von großem Fleiß, einem bemerkenswerten Talent bezüglich der Auswahl der Geschäftspartner sowie nicht zuletzt auch einem extrem guten Auge, was die Qualität der Tiere betrifft. In der Allgemeinen Sport-Zeitung finden sich daher, neben Traben, Radrennen und verblüffend scharfer Theaterkritik („Frau Odilon hat ein Stück umgebracht“), detaillierte Berichte über die Schlesinger’schen Transaktionen. Als der Hoflieferant im Dezember 1897 erst 56jährig verstarb, hinterließ er seiner Familie also vermutlich ein blühendes Unternehmen.
Die Familie: wir sprechen hier von Wilhelms Kindern Isidor (geb. 1874), Charlotte (geb. 1877), Berthold (geb. 1879) sowie Max (geb. 1880), die allesamt am Schüttel aufgewachsen sind. Wir sprechen aber auch von Julie, der Witwe, die bis zu ihrem Tod im Dezember 1937 auf Nummer 19a ansässig blieb. Julie Schlesinger, geborene Stern, sah rund um den Tattersall neue Zinshäuser in die Höhe schießen, konnte beobachten, wie in der Kurzbauergasse die Bildhauer-Ateliers der Akademie der bildenden Künste ihre Pforten öffneten, und registrierte quasi im Vorbeischlendern die Transformation der Rustenschacherallee, wo auf ehemaligen Grünflächen die ersten Villen errichtet wurden. In ihrem eigenen Haus wiederum hieß sie mit dem Philosophen Rudolf Eisler einen sehr intellektuellen Mieter willkommen, der mit Karl Renner, Max Adler und Michael Hainisch bekannt war und dessen politisch aktive, später so berühmte Kinder Hanns, Gerhart und Elfriede gar eine Polizeirazzia im Tattersall provozierten.
Die Eislers wohnten auch ebendort, als Oskar Kokoschka seine destruktive Beziehung mit Alma Mahler in ruhigere Bahnen zu lenken suchte. Der – nicht wirklich durchdachte – Plan: Er würde sich zum Kriegsdienst melden. Gut, dass dem paralysierten Maler hier ein lieber Freund hilfreich zur Seite sprang: Nicht nur ließ Adolf Loos seine Kontakte spielen, um Kokoschka bei der Kavallerie unterzubringen. Nein, auch über ein geeignetes Pferd für den reittechnisch völlig unerfahrenen Neo-Soldaten machte sich der Architekt so seine Gedanken.
Loos habe »den jüdischen Besitzer des Tattersall« gekannt, plauderte Kokoschka 1971 in seiner Autobiographie. Ausgestattet mit jenem Betrag, den ein Hamburger Apotheker eben erst für die Windsbraut bezahlt hatte, erwarb daher die Mutter des Malers, mit dem eifrigen Loos im Schlepptau, von diesem ominösen »Besitzer« also ein passendes Pferd. Wiewohl in den Jahren 1914 und 1915 in Wien noch drei Unternehmen betrieben wurden, die sich mit dem verkaufsfördernden Namen Tattersall schmückten, kann man davon ausgehen, dass Minden Lo, jenes Pferd, mit dem Kokoschka, eingekleidet von Goldman & Salatsch, in den 1. Weltkrieg ziehen würde, von den gesellschaftlich angesehenen Schlesingers verkauft wurde. Der Maler selbst hüllte sich dazu allerdings in Schweigen und bediente sich stattdessen einer an die unglücksselige Zwischenkriegszeit gemahnenden Diktion: »Wie der Jude meiner Mutter versprach«, würde ihn das Pferd glücklich nach Hause bringen. »Sie war ihm sympathisch und mehr oder weniger hat das Pferd auch für ihn Wort gehalten.« Wie auch immer: der von Kokoschka namentlich nicht genannte Verkäufer – wahrscheinlich war es Isidor Schlesinger – hatte durch seine Bekanntschaft mit Adolf Loos dem als Enfant terrible verschrieenen Künstler vielleicht das Leben gerettet.
Von Ihrer Schwester (Carla Schlesinger, Anm.) erfahre ich, dass im Januar Ihr Geburtstag ist. Ihnen, und denen, die Ihnen teuer sind, und auch uns allen wünsche ich, dass der Zeit nie Macht gegeben sei Ihnen weh zu tun, oder an die gesegnete Reinheit Ihres Wesens unzart zu rühren.
Richard Beer-Hoffmann an Rudolf Askonas. New York, 20. Dezember 1944
Zu Beginn des 1. Weltkriegs wohnte Isidor Schlesinger schon im Haus Biberstraße 14, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft (Nr. 16) sich auch der Verlag von Sigmund Freuds Bruder Alexander befand. 1906 hatte der Tattersall-Gesellschafter Carla Askonas geheiratet, die ebenso wie ihre Brüder Carl und Rudolf einer bekannten Wiener Großindustriellenfamilie (Heller & Askonas) entstammte, im Oktober 1907 wurde Tochter Anny geboren – jene Anny, der wir unter ihrem Namen Ann M. Lingg schon am Anfang dieses Textes begegnet sind. Während der später von den Nazis beraubte Carl Askonas Werke von Waldmüller besaß, interessierte sich seine Schwester besonders für Asiatika. Carlas Name findet sich im teils sehr illustren Mitgliederverzeichnis des Vereins der Freunde asiatischer Kunst und Kultur in Wien, der, unterstützt von Persönlichkeiten wie Ferdinand Bloch-Bauer, zu den bedeutendsten wissenschaftlichen Vereinen der Donaumetropole zählte. Zwischen den eben genannten Personen gab es zudem ein dicht komponiertes Knäuel von sowohl gesellschaftlichen als auch familiären Verbindungen, das es erst zu entwirren gilt: Der Zuckerfabrikant Ferdinand Bloch-Bauer war bekanntlich der Onkel von Maria Altmann, die mehrere Klimt-Gemälde, darunter Adele Bloch-Bauer I, erst nach Jahrzehnten restituiert bekam. Diese wiederum war verheiratet mit Fritz Altmann, dem Bruder des Industriellen Bernhard Altmann. Letzterer war es schließlich, der seinen Freund Rudolf Askonas mit dem Schriftsteller Richard Beer-Hofmann (siehe oben), einem Intimus von Schnitzler und Hofmannsthal, bekannt machte. Wie man sieht, waren also Carla und Isidor Schlesinger Teil jener Schnittmenge zwischen (Groß-) Bürgertum und Künstlerszene, die das Leben in Wien auf so faszinierende Weise geprägt hatte.
Ebenfalls sehr fleissig in erwähntem Freundeskreis asiatischer Kunst engagierten sich auch der Komponist Egon Wellesz und dessen Frau Emmy, eine Byzantinistin. Egon Wellesz hatte 1905/06 bei Arnold Schönberg studiert, Hanns Eisler, der Philosophen-Sohn aus dem Tattersall, würde es ihm mehr als ein Jahrzehnt später gleichtun. Diese intensive Beschäftigung mit Atonalität und Zwölftonmusik unterschied die beiden jedenfalls von Isidors Tochter Anny: Sie schrieb ihre Dissertation über Das Wiener Singspiel der Biedermeierzeit. Ein Beitrag zur Geschichte der komischen Oper. Eine Dissertation, die uns das weitere Schicksal der Familie Schlesinger vergegenwärtigt, denn sie führt uns ins Jahr 1938: Im Online-Gedenkbuch der Universität Wien wird von mannigfachen Diskriminierungen berichtet, denen Anny Schlesinger bezüglich ihres Studienabschlusses ausgesetzt war.
Anny ist zum Zeitpunkt des »Anschlusses« noch bei ihren Eltern in der Biberstraße gemeldet. Einige Monate zuvor war überdies auch der langjährige »Nachbar« Alexander Freud in dieses Gründerzeithaus eingezogen, in ein Eckhaus, das sich angesichts seiner Nachbarschaft zu Otto Wagners Postsparkasse, zum MAK sowie zum mächtigen Regierungsgebäude, geradezu puristisch präsentiert. Sigmunds Bruder residiert auf Nr. 7, in einer Sechs-Zimmer-Wohnung, die Schlesingers logieren auf Nr. 11. Annys Onkel Max hingegen wohnt mit seiner minderjährigen Tochter Jutta nach wie vor in der Schüttelstraße 19a.
Am Nachbargrundstück 19b befindet sich eine Garage. Sie wird vom SS-Mitglied Erich Loos betrieben.
Dieser Mann »arisiert« nun die Gebäude jener Familie, die zu den alteingesessensten am Schüttel zählte. Wie die Journalistin Marianne Enigl im Dezember 2000 im profil enthüllte, geschah dies unter Mitwirkung des späteren österreichischen Bundespräsidenten Adolf Schärf, der als Loos‘ Anwalt fungierte. Isidor und Carla Schlesinger, die im Jänner 1939 aus Wien flüchten konnten, waren damals in Großbritannien, kurz danach würden sie nach New York emigrieren. Berthold Schlesinger, so verrät der am 23. März 1939 abgepresste Kaufvertrag, entkam vorerst nach Frankreich. Max Schlesinger war noch immer im Familiendomizil am Donaukanal ansässig.
1941 scheint er nicht mehr im Telefonbuch auf.
Im Tattersall ist nun die NSDAP-Ortsgruppe »Schüttel« untergebracht.
Zehn Jahre später spaziert die Ehefrau des »Ariseurs« unbehelligt von den Behörden durch das Gebäude. Nunmehr, dem Vernehmen nach, allerdings vorwiegend gehüllt in schwarze Kleidung. Vom einstigen Garagenbesitzer fehlt jede Spur, tschechische Recherchen ergeben im Jahr 2000 jedenfalls, dass ein »SS-Untersturmführer Erich Loos, der auch in der Personalliste von Auschwitz geführt wurde«, am 20. Mai 1945 in Kostelec erschossen wurde. Die um ihren verschwundenen Gatten trauernde Berta Loos verweilte dank eines skandalös verlaufenden Rückstellungsverfahrens auch in den kommenden Jahren in der Schlesinger’schen Wohnung im Tattersall, »bestehend aus 3 Zimmern, 2 Kabinetten, Dienstbotenzimmer, Küche, Badezimmer und Vorzimmer im 1. Stock «. Mehr noch: Isidor, Berthold und Jutta Schlesinger wurden – unfassbar – verpflichtet, jenem Ehepaar, das sie brutal beraubt hatte, für die Restitution sogar 70.000 Schilling zu bezahlen, innerhalb von vier Monaten, unter Androhung von sonstiger Exekution. Diese Summe überstieg, so profil-Journalistin Enigl, die finanziellen Möglichkeiten der Familie und sie musste das Haus Schüttelstraße 19a verkaufen, an jene Hausverwaltung, die offenbar „erstmals in der NS-Zeit hier tätig war“ (Enigl). Einzig Isidor Schlesinger war es möglich, einen an die Böcklinstraße grenzenden Liegenschaftsanteil zu behalten. Dort befanden sich, ein altes Foto bezeugt es, langsam verwitternde Ruinen des einst so stolzen Tattersalls. 1955 ging dieser Liegenschaftsanteil in den Besitz von Carla über, 1956 in jenen von Anny. Anny, die selbst in New York so viele Texte über Wien und seine Musik schreiben würde. Anny, Isidors Tochter, die 1961 gemeinsam mit ihrem Mann Erwin Lessner – auch er ein Flüchtling aus Wien, mit schillernder Biographie (Major der k.u.k. Armee, Journalist, Antifaschist) – ein Buch über die Geschichte der Donau, »the great river«, verfasst und im New Yorker Verlag Doubleday veröffentlicht.
Im Jahr 1978 verkaufte schließlich Ann M. Lessner, ehemals Anny Schlesinger, als Autorin bekannt unter Lingg, ihren 1/3 Anteil an der »Liegenschaft EZ 1814 des Grundbuches der Kat. Gemeinde Leopoldstadt, Haus in der Schüttelstraße 19a, bestehend aus dem Grundstück Nr. 1307/2 Baufläche, ›Bauplatz 1‹, Haus ENr. 1814«. In der Folge wurde dort, schräg vis-a-vis von Fritz Wotrubas ehemaligem Atelier, ein Wohnbau errichtet.
Im Jahr 2000 lebte nur noch ein Mitglied der Familie Schlesinger in Wien. Eine »betagte Dame«, so Marianne Enigl, und sie wohnte nicht im Tattersall, dem rechtmäßigen Familiensitz. Dies war ihr verwehrt geblieben. Die Dame – handelte es sich um Jutta? – wohnte »in der Zimmer-Küche-Wohnung, die ihr nach dem Krieg zugewiesen worden war.«
Das Haus Biberstraße 14 – Isidor, Carla und Anny Schlesingers ehemaliges Domizil – ist heute Teil von Stadtrundfahrten auf den Spuren von Sigmund Freud: Hier hatten nach Alexander Freuds Emigration die vier Freud-Schwestern Rosa, Marie, Adolfine und Paula gewohnt. Sie starben im Holocaust.
Das Haus Schüttelstraße 19a wurde nach 1945 komplett abfassadiert. Was auch immer architektonisch an den Neuen Wiener Tattersall und die Familie Schlesinger erinnern könnte, es ist nicht mehr.
Richard Braungart, Das moderne deutsche Gebrauchs-Exlibris (Franz Hanfstaengl Verlag. München, 1922. Online auf archive.org)
Erwin Lessner; Ann M. Lingg Lessner, The Danube. The Dramatic History of the Great River and the People Touched by Its Flow (Doubleday & Company. New York, 1961. Online auf Hathi Trust Digital Library)
Tina Walzer; Stephan Templ, Unser Wien. »Arisierung« auf österreichisch (Aufbau Verlag. Berlin, 2001)
Goce Smilevski, Freuds Schwester (Literaturpreis der Europäischen Union 2011. Matthes & Seitz Verlag, Februar 2013)
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Eine der unzähligen Geschichten, die spüren lassen, wie die Faust des Schicksals durch die Zeit braust. Menschen mit all ihren Gefühlen werden zermalmt oder stieben durch den Druck des Elends zerbrechlich zur Seite.
Danke, dass Sie die Geschichte des Tattersalss und der Schlesingers mit so viel Licht gefüllt haben! Wie immer toll recherchiert und in so schöner Weise erzählt. A.S.