Der stille Amerikaner. Leland B. Morris, Rustenschacherallee 28
(1938-40)

Berlin, 11. Dezember 1941: Leland B. Morris wird ins Außenministerium zitiert, wo ihn Joachim von Ribbentrop über die deutsche Kriegserklärung an die USA informiert.

Der stille Amerikaner kam aus Ägypten. Ja, er war umtriebig gewesen in den letzten Jahren. Die auftragsgemäß absolvierte Reise nach Saudi-Arabien etwa. Die ungeahnten Möglichkeiten dort – Öl! Dhahran, das Bohrloch Nr. 1. Sollten also die USA im Königreich eine diplomatische Vertretung etablieren? Der stille Amerikaner war 1936 vor Ort gewesen. Er winkte ab: Nein, noch nicht.
Im Dezember 1938 füllt er, der stille Amerikaner aus Texas, sorgsam einen Meldezettel aus. Er hatte die Stadt, das Land, den Kontinent gewechselt. Nun lebt er in Wien, schon seit einiger Zeit. Auch seine Frau war mitgereist in die Donaumetropole: Marie Aimee, Mädchenname Zaba, geboren in Smyrna. Die beiden logieren in einer Villa am Rande des Praters. Vor ihren Fenstern liegt die Jesuitenwiese, still und schneebedeckt. Adolf Eichmann wohnt im selben Häuserblock. Der SS-Referent leitet die »Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien«, der stille Amerikaner ist als Generalkonsul, und somit höchstrangiger hiesiger US-Diplomat, für die Visa-Vergabe zuständig. Eine seltsame Nachbarschaft, fürwahr. Wer beobachtet hier wen?

Der stille Amerikaner also bemüht sich um Contenance. Seine Aufgabe ist schwierig. Wie verfahren mit den verzweifelt um Emigration ringenden Wiener Juden? Sie stürmen das Konsulat und erzählen furchtbare Geschichten, über Terror, Brutalitäten, Gewalt. Das diplomatische Corps weiß: Es ist alles wahr. Aber: Nicht jeder kann ein Visum bekommen; diese bürokratische Doktrin musste schon John Wiley erfüllen, der Vorgänger des stillen Amerikaners. Wileys Gratwanderung – humanitäre Hilfe einerseits, restriktive Immigrationspolitik andererseits – war auch für seine Frau ersichtlich gewesen, für Irena, die einst in Wien bei Anton Hanak studiert hatte. Was der stille Amerikaner wohl über besagte Vorgaben aus Washington denkt? Worüber spricht er mit seiner Gattin, nach Dienstschluss, nachdem er in die Villa zurückgekehrt ist? In seinem von hektischer Betriebsamkeit geprägten Büro jedenfalls agiert der stille Amerikaner zumeist streng nach Vorschrift und geht Anschuldigungen, im Konsulat wäre Bestechlichkeit üblich, sorgfältig nach.

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Oh là là, le Konstantinhügel! 1869-1871

Bois_de_Boulogne-1890-1900
Sieht aus wie der Konstantinhügel, ist es aber nicht: Der Wasserfall im von Jean-Pierre Barillet-Deschamps umgestalteten Pariser Bois de Boulogne auf einer Aufnahme, die ca. 1900 entstand.
Jean-Pierre Barillet-Deschamps
Der Landschaftsarchitekt des Haussmann’schen Paris: Jean-Pierre Barillet-Deschamps.

Im New Yorker Metropolitan Museum of Art findet derzeit eine offenbar eindrucksvolle Ausstellung über den Pariser Fotografen Charles Marville (1813-1879) statt, über einen Mann also, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts jenes Paris ablichtete, das kurz danach der Spitzhacke von George-Eugène Haussmann, dem mächtigen Stadtplaner von Napoleon III., zum Opfer fallen würde. Marville fotografierte aber auch die transformierte (und gentrifizierte) Seine-Metropole mit ihren breiten Boulevards, großzügigen Plätzen und neuen Parkanlagen – und dokumentierte so auch das Werk des Gartenarchitekten Jean-Pierre Barillet-Deschamps, der zu Haussmanns engsten Mitarbeitern zählte (siehe etwa hier). Der kreative Pflanzenexperte war, gemeinsam mit seinem Kollegen Jean-Charles Alphand, nicht nur für das Erscheinungsbild unzähliger Pariser Plätze verantwortlich, sondern unter anderem auch für die Umgestaltung des Bois de Boulogne und des Bois de Vincennes sowie für die Realisierung des neu angelegten Parc des Buttes-Chaumont.

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Die Witkowitzer Eisenwerke – Denkschrift 1928

Wer niemals in Witkowitz gewesen ist, kann nicht ermessen, welchen
gigantischen Umfang diese Unternehmung besitzt. Sie umfasst eine ganze
Stadt, die größer als beispielsweise Znaim ist und die tief in das Weichbild
Mährisch-Ostraus ihre eisernen Arme hinüberstreckt.
Aus: Das Mammutwerk Witkowitz (Die moderne Welt, Heft 6, 1924. Online auf anno)

Aus mysteriösen Gründen sind die riesigen Witkowitzer Eisenwerke, die sich bis zu ihrer »Arisierung« im Besitz der Wiener Familien Rothschild und Gutmann (siehe Text zu Rositta Gutmann, Rustenschacherallee/Böcklinstraße) befanden, in Österreichs kollektivem Gedächtnis kaum präsent. Zu Unrecht: Einst war diese mährische Unternehmung von großer wirtschaftlicher Bedeutung – sowohl für die Donaumonarchie als auch für die 1. Republik – und beschäftigte zeitweise mehr als 30.000 Menschen. Selbst die Geschichte der heimischen Bahn wäre ohne Witkowitz/Vitkovice, das, so der Plan in den Pioniertagen der nunmehrigen ÖBB, mittels rascher und leistungsfähiger Lokomotiven an Wien angeschlossen werden sollte, anders verlaufen. Die tschechische Nationalbibliothek hat im Zuge ihres Digitalisierungsprojekts nun zwei Foto-Broschüren der Eisenwerke online gestellt. Die erste stammt aus dem Jahr 1914, als Heinrich Wiedmann (ca. 1843-1916), der viele Jahre erfolgreich als Prokurist die Agenden der Gebrüder Gutmann vertrat, gemeinsam mit seiner Familie die Villa in der Böcklinstraße 35 bewohnte (seine Witwe wird auch nach seinem Tod dort ansässig bleiben). Die zweite, hier in kleinem Maßstab abgebildete, wurde 1928 publiziert und präsentiert, ähnlich wie schon das Büchlein aus 1914, neben den einzelnen Aspekten der Eisenproduktion auch mehrere dem Werk angeschlossene Arbeiter-Wohnhäuser, Ambulanzen und Erholungsheime sowie eine Schule und ein Waisenhaus. Eine Dekade später, nach dem »Anschluss« 1938, wurde Louis Rothschild unter anderem auch eben dieser Eisenwerke wegen – ihre Besitzanteile sollten den Familien Rothschild und Gutmann abgepresst werden – von der Gestapo am Wiener Morzinplatz ein Jahr in Haft gehalten.

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Stauffenbergs Gefährten, Teil 1/2: Rudolf von Marogna-Redwitz, Böcklinstraße 27/Rustenschacherallee 12 (1938-1944)

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Von Misshandlungen gezeichnet: Rudolf von Marogna-Redwitz vor dem Volksgerichtshof in Berlin, Oktober 1944. Foto: Deutsches Bundesarchiv.
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Mit Marogna-Redwitz seit den 1920er Jahren bekannt: Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907-1944), der Kopf von Operation Walküre.

In den 1950er Jahren, so wird erzählt, war die von Richard Esriel entworfene Villa zwischen Böcklinstraße und Rustenschacherallee in einem beklagenswerten Zustand. Nun präsentiert sie sich tipp-topp renoviert, mit kleinen Beeten in den Vorgärten, und nichts deutet auf ihre Vergangenheit hin, auf jene Tage, als sie ein Wiener Zentrum für Operation Walküre bildete, diese am 20. Juli 1944 so tragisch gescheiterte Verschwörung innerhalb der deutschen Wehrmacht. Mehr als 200 Personen wurden in der Folge hingerichtet, darunter auch ein Mann, der von Claus Schenk Graf von Stauffenberg persönlich mit der Walküre-Durchführung in Wien betraut war, ein Mann, der in erwähnter Villa wohnte: Rudolf von Marogna-Redwitz, Leiter der deutschen Abwehr in Wien und von großer Bedeutung für den österreichischen Widerstand, wurde nach einem Schauprozess vor Roland Freislers Volksgerichtshof am 12. Oktober 1944 in Berlin-Plötzensee gehängt.

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Wagner, Vogue und Jesuitenwiese: Rositta Gutmann, Rustenschacherallee Nr. 28; Nr. 32-36; Nr. 40 und Böcklinstraße Nr. 55 (1912-1938)

Kühle Grandezza, umflort von Melancholie: Rositta Gutmann in der deutschen Vogue vom April 1929. Foto: Edith Barakovich.

Ende der 1920er Jahre wagte der renommierte US-Verlag Condé Nast ein Experiment: Sein Style-Flaggschiff, die Modezeitschrift Vogue, sollte nun auch in einer deutschen Ausgabe erscheinen. Die Redaktion wurde, wenig überraschend, im pulsierenden Berlin angesiedelt und das erste Magazin im April 1928 auf den Markt gebracht. Exakt ein Jahr später, am 10. April 1929, erschien man mit einem Heft, das schwerpunktmäßig neuen Autos und cooler Hutmode gewidmet war. Dem entsprechend zeigte auch Pierre Morgues Coverillustration eine sehr selbstbewusste Frau am Steuer. Dies bildete also den Rahmen für obiges Portrait von Rositta Gutmann, das auf Seite 8 zu finden ist. Geschaffen wurde es von Edith Barakovich (geb. 1896 in Zemun, damals ein Grenzort der Donaumonarchie, heute ein Stadtbezirk von Belgrad), jener jungen talentierten Wiener Fotografin, die gemeinsam u. a. mit Trude Fleischmann und ihrer Lehrmeisterin Dora Kallmus (Madame d’Ora) die traditionell männliche Szene der heimischen Lichtbildner seit längerem heftig durcheinander wirbelte. Barakovich, deren Atelier sich in Wien 4, Prinz-Eugen-Straße 30 befand, muss diese Veröffentlichung jedenfalls zu ihren Karrierehöhepunkten gezählt haben – für die Vogue (deren dt. Version Teile der US-Ausgabe übernahm) fotografierten bekanntlich internationale Stars wie Edward Steichen und George Hoyningen-Huené.

Wie lange sich die Fotografin und ihr Modell kannten, ist unklar. Durchforstet man Zeitschriften der 1920 Jahre (Moderne Welt, Frisierkunst der Mode, etc.), so findet man etwa eine Aufnahme, die Barakovich um 1927 von Anna Lucia und Maria Habig angefertigt hat, den Nichten von Hans Emil Gutmann, Rosittas Ehemann. Es sind Fotografien, die von einer Welt erzählen, die zertrümmert werden würde: Zehn Jahre, nachdem das Porträt in der Vogue erschien, lebten beide Frauen nicht mehr in Wien. Edith Barakovich war mit ihrem Gatten, dem Drehbuchautor Paul Frank, 1938 nach Frankreich emigriert und wird 1940 in Marokko, einer weiteren Fluchtstation, Selbstmord begehen. Rositta Gutmann, Mitglied einer der berühmtesten jüdischen Familien Mitteleuropas, wohnte seit Februar 1938 in Genf. Sie sollte nicht mehr in die Rustenschacherallee zurückkehren.

Blick auf die Jesuitenwiese

Es war eine Straße, die sie schon seit langem kannte. 1912, noch vor dem 1. Weltkrieg, hatte sich Rositta Ungar-Wiener (man beachte den Doppelnamen!) in ihrem an der Jesuitenwiese gelegenen Haus Rustenschacherallee 40 angesiedelt. Drei Jahre später heiratete sie, die 1882 im galizischen Tarnopol als Tochter von Saul und Regina Wiener geboren wurde, in zweiter Ehe Hans Emil Ritter von Gutmann, neun Jahre jünger, Enkel von David Ritter von Gutmann, einer der »Kohlenbarone« also, wie die Gutmanns in Wien genannt wurden.

Das wirtschaftlich erfolgreichste Brüderpaar der Donaumonarchie: Wilhelm (1826-1895) und David Ritter von Gutmann (1834-1912).

Es würde hier zu weit führen, die gesamten wirtschaftlichen Aktivitäten dieser sehr reichen, sehr mächtigen Familie aufzulisten (sie umfassten Bergbau ebenso wie Bankgeschäfte), erwähnt werden soll allerdings das soziale Engagement: Die Gutmanns unterstützten nicht nur Rudolfinerhaus und Poliklinik mit hohen Beträgen, sondern wirkten auch, gemeinsam mit der ihr eng verbundenen Familie Rothschild, mittels Spenden (an die Kaiser-Franz-Joseph-I.-Jubiläumsstiftung für Volkswohnungen und Wohlfahrtseinrichtungen) an der Errichtung des damals hochmodernen, 1905 eröffneten Männerwohnheims in der Brigittenauer Meldemannstraße mit. Dass jener Mann, der später an der Spitze des NS-Terrorregimes stand, ausgerechnet dort von 1910-1913 wohnte (Details dazu sind nachzulesen in Brigitte Hamanns Hitlers Wien), mutet angesichts der Nazi-Gewalt, die über das Pratercottage niederbrach, besonders trist an: nicht nur lebten in der Rustenschacherallee mehrere Mitglieder der Familie, sondern in der (heute stark veränderten) Villa Böcklinstraße 35 überdies auch Bertha Wiedmann, eine Nichte von David und Wilhelm von Gutmann, und ihr Gatte Heinrich, der Prokurist des Konzerns Gebrüder Gutmann (die beiden waren übrigens Großeltern von Grete Tugendhat).

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Der melancholische Schmerzensmann der Belle Époque. Auguste-Olympe Hériot, Rustenschacherallee 30 (ab 1929)

Auguste-Olympe Hériots Wurzeln und die Quelle seines Reichtums: Das Pariser Großkaufhaus Grands Magasins du Louvre. Hier schlug die Geburtsstunde der Konsumgesellschaft.

Noch während 2011 mehrere britische Städte von abrupten und sehr heftigen Ausschreitungen erschüttert wurden, publizierte Zygmunt Bauman einen viel beachteten Essay. Seine Kernthese: »These are riots of defective and disqualified consumers.« Ob man ihm nun zustimmt oder nicht – der renommierte Philosoph und Soziologe eröffnete damit jedenfalls eine interessante Debatte über die soziokulturellen Auswirkungen der Konsumgesellschaft, die in den kommenden Jahren an Intensität wohl zunehmen wird.

Warum dieser die aktuelle Politik betreffende Verweis hier, in einem Text über Auguste-Olympe Hériot, zu finden ist? Nun, sobald man sich auf dessen Spuren begibt, stösst man unweigerlich auf Émile Zolas Das Paradies der Damen (Au Bonheur des Dames). Der umfangreich, auch anhand vieler Interviews, recherchierte und 1883 erschienene Roman rund um ein Pariser Warenhaus enthält nicht nur wesentliche Elemente der Hériot’schen Familienchronik, sondern entpuppt sich überdies als verblüffend scharfsichtiges Porträt einer Gesellschaft, die, gesteuert durch ausgefeilte Verkaufstechniken, sich einem ungehemmten Shoppingwahn hingibt. Vieles, allzu vieles klingt hier höchst vertraut: »Endlich wurde geöffnet, und der Strom der Kunden setzte ein. Gleich in der ersten Stunde, noch ehe die dahinter liegenden Geschäftsräume sich gefüllt hatten, entstand unter dem Eingang ein solches Gedränge, dass die Polizei einschreiten musste, um den Bürgersteig für den Verkehr freizuhalten. Mouret hatte richtig gerechnet: eine geballte Masse von Köchinnen, Haushälterinnen und kleinen Bürgersfrauen stürzte sich auf diese billigen Artikel, man stieß und drängte sich, ein dichter Menschenknäuel balgte sich um die Waren.«

Es waren also Szenen wie diese, die sich vor den Grands Magasins du Louvre abspielten, jenem riesigen, 1855 von Auguste Hériot (1826-1879), Alfred Chauchard und Charles Eugene Fare gegründeten Warenhaus, das gemeinsam mit dem von Aristide Boucicaut drei Jahre zuvor eröffneten Einkaufstempel Le Bon Marché dem faszinierten Zola als unwiderstehliches Role Model diente. Besagte Kaufhäuser waren die weltweit ersten ihrer Art; sie begründeten nicht nur die Konsumgesellschaft, sondern schlugen auch eine Schneise ins damals nach wie vor existierende Pariser Klassensystem: In ihren Hallen trafen erstmals in gleich berechtiger Weise kleine Angestellte auf das aufstrebende Bürgertum und Teile der Aristokratie. Allerdings wurden, wie man selbst bei dem dieser Entwicklung durchaus positiv gegenüberstehenden Zola nachlesen kann, erhebliche Teile des oftmals in kleinen, dunklen Geschäften angesiedelten Einzelhandels ruiniert und enormer Preisdruck auf die Produzenten der Waren ausgeübt.

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