4. Mai 1910: Trauung im Stadttempel. Sigmund Epler, Böcklinstraße 59

Hochzeit Alexander Marmorek

Ein Jahr zuvor hatte sich der Bruder des Bräutigams erschossen, am Wiener Zentralfriedhof, am Grab des Vaters – es war ein Ereignis, das die Trauung im Wiener Stadttempel wohl überschattet haben musste. Nun, am 4. Mai 1910, also schritten der von Louis Pasteur nach Paris berufene Bakteriologe Alexander Marmorek, Theodor Herzls engagierter Mitstreiter, und die französische Ärztin Rachel Steinberg zur Vermählung. Als Trauzeugen[1] agierten Sigmund Epler und Johann Kremenezky, ersterer bekannt als mächtiger Vorstand der Kohlen-Sektion in der Länderbank, zweiterer ein höchst innovativer Industrieller, dessen Glühbirnen auch das nunmehr elektrifizierte Wien erleuchteten. Beide waren eng mit dem Zionismus verbunden: Epler, dessen bei der Kaiser Ferdinands-Nordbahn beschäftigter Vater Hermann Vizepräsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Brünn (Brno) gewesen war, hatte sich zu Beginn der 1890er Jahre der Chowewe-Zionbewegung (auch: Chibbat Zion) angeschlossen, vor seiner Übersiedlung nach Wien schon die böhmischen Zionisten organisiert[2] und zählte zu Theodor Herzls frühesten Gefolgsleuten. Kremenezky wiederum hatte zudem 1901 den Jüdischen Nationalfonds (Keren Kajemeth) ins Leben gerufen, der Geld zum Ankauf von Siedlungsland in Palästina zur Verfügung stellte.

Viel wird an diesem Tag also von Herzl die Rede gewesen sein. Und natürlich auch von Oskar, Alexander Marmoreks oben erwähntem Bruder – … WEITERLESEN.

Der stille Amerikaner. Leland B. Morris, Rustenschacherallee 28
(1938-40)

Berlin, 11. Dezember 1941: Leland B. Morris wird ins Außenministerium zitiert, wo ihn Joachim von Ribbentrop über die deutsche Kriegserklärung an die USA informiert.

Der stille Amerikaner kam aus Ägypten. Ja, er war umtriebig gewesen in den letzten Jahren. Die auftragsgemäß absolvierte Reise nach Saudi-Arabien etwa. Die ungeahnten Möglichkeiten dort – Öl! Dhahran, das Bohrloch Nr. 1. Sollten also die USA im Königreich eine diplomatische Vertretung etablieren? Der stille Amerikaner war 1936 vor Ort gewesen. Er winkte ab: Nein, noch nicht.
Im Dezember 1938 füllt er, der stille Amerikaner aus Texas, sorgsam einen Meldezettel aus. Er hatte die Stadt, das Land, den Kontinent gewechselt. Nun lebt er in Wien, schon seit einiger Zeit. Auch seine Frau war mitgereist in die Donaumetropole: Marie Aimee, Mädchenname Zaba, geboren in Smyrna. Die beiden logieren in einer Villa am Rande des Praters. Vor ihren Fenstern liegt die Jesuitenwiese, still und schneebedeckt. Adolf Eichmann wohnt im selben Häuserblock. Der SS-Referent leitet die »Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien«, der stille Amerikaner ist als Generalkonsul, und somit höchstrangiger hiesiger US-Diplomat, für die Visa-Vergabe zuständig. Eine seltsame Nachbarschaft, fürwahr. Wer beobachtet hier wen?

Der stille Amerikaner also bemüht sich um Contenance. Seine Aufgabe ist schwierig. Wie … WEITERLESEN.

Mit dem Thronfolger in Écska: Felix von Harnoncourt, Laufbergergasse 12

Felix von Harnoncourt, Franz Ferdinand in Ecska (Ecka), 1901
Happy Hour in Écska (Ečka): Erzherzog Franz Ferdinand und Graf Felix Harnoncourt (2. und 3. v. l.).

Am 2. Jänner 1900 wurde in der Pariser Tageszeitung Le Figaro unverhohlen spekuliert, der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand habe seine große Liebe Sophie Chotek von Chotkowa in einer geheimen Zeremonie geheiratet. Die Franzosen nannten, basierend auf Gerüchten in der Wiener Gesellschaft, sogar den Ort der angeblichen Trauung: die kleine Gemeinde Écska (Ečka) in der Vojvodina – damals in Österreich-Ungarn gelegen, heute ein Teil von Serbien, ein idyllischer Weiler, der von einem zwischen 1816-1820 errichteten Schloss dominiert wird. Dieses Anwesen, das laut Erzählungen u. a. mit einem Konzert des damals neunjährigen Franz Liszt eingeweiht wurde, befand sich im Besitz von Graf Felix Harnoncourt (1857-1934), Franz Ferdinands Jagdfreund – er hatte es nach dem frühen Tod seiner Gattin Marianne Lazar de Écska (1867-1893) geerbt.

Nun, tatsächlich vermählten sich Sophie und Franz Ferdinand ein halbes Jahr später, am 1. Juli 1900, im böhmischen Reichstadt (Zákupy).

28. Juni 1914: Sarajevo.

Die von Harnoncourt erbaute Villa im Pratercottage wurde mittlerweile abgerissen. Das Kastel Ečka hingegen steht unter Denkmalschutz, präsentiert sich schmuck renoviert und beherbergt ein Hotel. Dessen Website ist auf deutsch abrufbar. Die einstigen Aufenthalte von Franz Ferdinand … WEITERLESEN.

Der Prater, die Pferde und die Familie Springer, Teil 5: In der Freudenau

Freudenau, 1916: Gustav von Springer, Viktor Mautner von Markhof, Baron Czekelius von Rosenfeld, Nikolaus von Szemere, Anton Dreher, Andor von Pechy, Baron Mikulitsch.

Um die ganze Pracht dieses Fotos aus dem Jahr 1916 zu ermessen, sollte man es anklicken und in höherer Auflösung betrachten. Wir sehen hier teils schillernde Persönlichkeiten (Nikolaus von Szemere!) in ungewohnter Mission – ihr Augenmerk gilt ausschließlich den rasenden Rössern. Und wir sehen mit Gustav von Springer (links im Bild gemütlich auf einer Bank positioniert), Viktor Mautner von Markhof und Anton Dreher jun. jene Industriellen, deren riesige Rennställe – sie zählten vor dem 1. Weltkrieg zu den größten der Donaumonarchie – in die glanzvolle Geschichte der Freudenau eingingen. Nicht im Bild sind leider Isidor Schlesinger und seine Brüder Berthold und Max, die auch in Sachen Rennsport sehr engagierten Pferdehändler und Besitzer des Reitinstituts Neuer Wiener Tattersall (Schüttelstraße 19a), und dennoch dürfen sie nicht unerwähnt bleiben. Sie hatten »Gusti« von Springer, als dieser 1915 den Bestand seines Gestütes in Felsöjatto erheblich reduzierte, wertvolle Pferde abgekauft – damals, als der Philosoph Rudolf Eisler noch im Schlesinger’schen Tattersall wohnte, gemeinsam mit seinen Söhnen Hanns (dem späteren Komponisten) und Gerhart (er wird bis zu seinem Tod das staatliche DDR-Fernsehen befehligen) sowie mit seiner Tochter Elfriede (Ruth), die Mitte der 1920er-Jahre an der Spitze der deutschen Kommunisten stand.

Die Namen Mautner … WEITERLESEN.

Der Prater, die Pferde und die Familie Springer, Teil 4: Die Bergwerke in Jaworzno

Steinkohlengrube in Jaworzno. Zeichnung von Hugo Charlemont (Kronprinzenwerk, Band: Galizien, 1898)

Im Wiener Straßennetz finden sich einige ganz großartige Namen (1010, Stoß im Himmel, z.B., oder 1140, Grüne Stube). Vor wenigen Jahren gesellte sich nun auch 1020, An den Kohlenrutschen hinzu. Der so liebevoll betitelte Verkehrsweg im noch jungen Stadtentwicklungsgebiet Nordbahnhof mündet in die ebenfalls neu geschaffene Krakauer Straße. Fürwahr eine interessante topografische Festschreibung, die zu einem Blick zurück verleitet:

Die Presse, 18. Februar 1869
»Seit einigen Wochen sind hier Gerüchte verbreitet, die Nordbahngesellschaft beabsichtige das große Kohlenbergwerk Jaworzno käuflich an sich zu bringen. Bis jetzt haben diese Gerüchte wenig Wahrscheinlichkeit an sich; aber schon die bloße Anregung des Gedankens erregt in industriellen Kreisen Besorgnis über die Großmachtstellung der Nordbahn im Kohlenrayon Krakaus, da die Nordbahn ohnehin das bedeutende Kohlenbergwerk Pechnik bei Jaworzno besitzt. Man befürchtet nämlich – ich weiss nicht, ob mit Recht – die Nordbahn werde durch den Ankauf Jaworznos gewissermaßen Monopolistin im Kohlenrayon Krakaus werden.«

Neues Fremden-Blatt, 15. Mai 1871
»Die Verhandlungen wegen des Verkaufes des ärarischen Kohlenwerkes Jaworzno haben zu einem definitiven Resultate geführt. Das Werk ist bereits an ein aus den Bankiers Springer, Schoeller, Gebrüder Gutmann bestehendes Konsortium verkauft worden. Als

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Der Prater, die Pferde und die Familie Springer, Teil 3: Die Genesis eines Konzerns

Usines Fould-Springer_2
Einst ein Teil des Fould-Springer-Konzerns: Die vom Wiener Baron Max Springer begründete Presshefe-Fabrik in Maisons-Alfort nahe Paris.

Kommerzialrat Theodor Lassner, leitender Direktor der AG für Chemische Industrie, wohnte in der Villa Böcklinstraße 35 – und hatte eine führende Rolle innerhalb der Baron Springer-Stiftung inne. Dr. Ernst Bachrach, bis zum Crash der Credit-Anstalt (1931) Direktor der Berndorfer Krupp-Werke, wohnte in der Villa Böcklinstraße 47 – und saß im Verwaltungsrat des Fould-Springer-Konzerns (Paris). Vor dem »Anschluss« 1938 residierten also zwei Manager nur wenige Häuser voneinander entfernt, die im Rahmen ihrer so unterschiedlichen Tätigkeit eng mit der Familie Springer verbunden waren. Lassner konnte in die USA flüchten, Bachrach wiederum war ab Ende Juli 1938 nicht mehr im Pratercottage gemeldet – vermutlich war er von den Nationalsozialisten gezwungen worden, seine Wohnung zu verlassen. Er lebte danach mehrere Wochen in der Villa seiner Schwester Emma Ehrenzweig (1190, Vegagasse 5; der renommierte US-amerikanische Rechtswissenschaftler Albert Armin Ehrenzweig war sein Neffe) und meldete sich am 22. August 1938 nach Prag ab. Dort verlieren sich Ernst Bachrachs Spuren.

Beide Männer verfügen über bemerkenswerte Biographien. Auf diese wird zu einem späteren Zeitpunkt jeweils einzeln und ausführlich eingegangen werden; vorerst sollen, um sich einen allgemeinen Überblick zu verschaffen, kurz … WEITERLESEN.

Der Prater, die Pferde und die Familie von Springer, Teil 2: Gustav von Springer, die Baltazzis und der Jockey-Club

Gustav von Springers Pferd Vinea (1884)
Gewann 1884 den Preis des Jockey-Clubs (Österreichisches Derby): Gustav von Springers Pferd Vinea.

Im September 2011 veräußerte Nathaniel de Rothschild via Christie’s das Interieur des Palais Abbatial de Royaumont. Doch bei dieser Auktion wechselten nicht einfach nur Gemälde, Grafiken und wertvolles Mobiliar den Besitzer. Rothschild, der Sohn von Élie de Rothschild und Liliane Fould-Springer, trennte sich auch von mehreren Objekten, die mit der Geschichte des österreichischen Reitsports eng verbunden sind – von Objekten, die sich ziemlich sicher einst im Springer-Schlössl (Wien-Meidling) befanden und vom Prater erzählen, von der Freudenau, von Gustav von Springer, dem Wiener Großindustriellen, Pferdezüchter und Rennstallbesitzer. Im Auktionskatalog zum Verkauf der Sammlung Fould-Springer – denn um diese handelte es sich – nämlich finden sich neben Eugen Felix’ Porträt Madame Léon Fould, geborene Ephrussi (Mutter von Eugène Fould, Gustav von Springers Schwiegersohn) sowie Gemälden von Rudolf Ribarz und Moritz Daffinger vor allem mehrere Bilder, die Baron Springers Pferde porträtieren und wohl in seinem Auftrag geschaffen wurden. Eines davon zeigt Palmyra, gemalt von Wilhelm Richter, das u. a. im deutschen Derby 1875 siegreich blieb. Wer mag wohl nun dieses Bild besitzen?

Gustav von Springer, 1902 (Foto: Anton Huber)
Gustav von Springer, ca. 1902. Foto: Anton Huber.

Als Palmyra schnaubend über die Rennbahnen galoppierte, war … WEITERLESEN.

In der Hitze des Augenblicks: Alexander Haydter, Böcklinstraße 90
(ca. 1906–1909)

Gustav Mahler am Schreibtisch
Nachdenklich am Schreibtisch: Gustav Mahler im März 1907.

Hin und wieder stößt man, Musikfreunde wissen es, auf eine Fotografie, die Gustav Mahler an einem Schreibtisch zeigt. Details dazu werden nicht angegeben – der Ort der Aufnahme bleibt also im Dunklen. Auch in Richard Spechts 1913 verfassten Erinnerungen an den Komponisten wurde dieses Bild ohne nähere Erläuterung abgedruckt.

Tatsächlich aber entstand das Foto im Frühjahr 1907 – konkret: in der Karwoche von 25. bis 30. März -, als Mahler einige Konzerte in Rom dirigierte: Der Schreibtisch befand sich im Sekretariat der Accademia di Santa Cecilia (siehe Wiener Bilder, 3. April 1907). Das an der Wand hinter Mahler angebrachte Porträt zeigt daher vielleicht auch jene Heilige, die der berühmten Institution ihren Namen gab: Cäcilia von Rom, die Patronin der Kirchenmusik.

»I shall never be
different. Love me.«

schrieb W. H. Auden in seinem wunderbaren Poem Anthem for St. Cecilia’s Day, das von Benjamin Britten ebenso eindrücklich vertont wurde. 1957 wird sich Auden, der weltberühmte britische Lyriker (und Librettist), bekanntlich in der kleinen niederösterreichischen Gemeinde Kirchstetten ansiedeln, unter anderem, um unkompliziert Aufführungen der Wiener Staatsoper besuchen zu können. »I shall never be different. Love me.« – Es sind Sätze, die … WEITERLESEN.