In der Hitze des Augenblicks: Alexander Haydter, Böcklinstraße 90
(ca. 1906–1909)

Gustav Mahler am Schreibtisch
Nachdenklich am Schreibtisch: Gustav Mahler im März 1907.

Hin und wieder stößt man, Musikfreunde wissen es, auf eine Fotografie, die Gustav Mahler an einem Schreibtisch zeigt. Details dazu werden nicht angegeben – der Ort der Aufnahme bleibt also im Dunklen. Auch in Richard Spechts 1913 verfassten Erinnerungen an den Komponisten wurde dieses Bild ohne nähere Erläuterung abgedruckt.

Tatsächlich aber entstand das Foto im Frühjahr 1907 – konkret: in der Karwoche von 25. bis 30. März -, als Mahler einige Konzerte in Rom dirigierte: Der Schreibtisch befand sich im Sekretariat der Accademia di Santa Cecilia (siehe Wiener Bilder, 3. April 1907). Das an der Wand hinter Mahler angebrachte Porträt zeigt daher vielleicht auch jene Heilige, die der berühmten Institution ihren Namen gab: Cäcilia von Rom, die Patronin der Kirchenmusik.

»I shall never be
different. Love me.«

schrieb W. H. Auden in seinem wunderbaren Poem Anthem for St. Cecilia’s Day, das von Benjamin Britten ebenso eindrücklich vertont wurde. 1957 wird sich Auden, der weltberühmte britische Lyriker (und Librettist), bekanntlich in der kleinen niederösterreichischen Gemeinde Kirchstetten ansiedeln, unter anderem, um unkompliziert Aufführungen der Wiener Staatsoper besuchen zu können. »I shall never be different. Love me.« – Es sind Sätze, die man auch mit dem kompromisslosen Mahler verknüpfen kann, der fünfzig Jahre vor Audens Ankunft im Wienerwald an einem römischen Schreibtisch saß, während in der kaiserlichen Residenzstadt heftig an seinem Stuhl als Direktor der Hofoper gesägt wurde.

Wie sich später herauskristallisieren sollte, hatte mit der Premiere von Glucks Iphigènie in Aulide (Fassung von Richard Wagner) am 18. März 1907 das »letzte der neuen Wunder« (Paul Stefan: Gustav Mahlers Erbe, 1908) im Haus am Ring stattgefunden: Gustav Mahler und Alfred Roller, der kongeniale Bühnenbildner, brachten mit dieser gemeinsamen, ihre künstlerische Zusammenarbeit an der Hofoper beschließende Produktion somit ein schwierig zu inszenierendes Werk auf die Bühne, ein Werk, das in den Jahren zuvor in Wien nur konzertant zu erleben war.

Es war eine denkwürdige, vom sprachgewaltigen Mahler-Fan Julius Korngold hymnisch rezensierte, beim möglicherweise überforderten Publikum allerdings nur mäßig erfolgreiche Aufführung mit den Spitzen des Ensembles – mit Marie Gutheil-Schoder, mit Anna Bahr-Mildenburg, mit Leopold Demuth, mit Erik Schmedes. Und mit Bassbariton Alexander Haydter, damals wohnhaft in der Böcklinstraße 90, der als Arcas auf der Bühne stand. Für Richard Specht, den feinfühligen Musikwissenschaftler, war Haydter inmitten des Mahler’schen Hofopernensembles »die vielseitigste Begabung, unfehlbar die rechten Konturen ziehend, keine unvergeßliche Persönlichkeit, aber in Gesang und Spiel die Treffsicherheit selbst und innerhalb der weitesten Grenzen: Alberich, Beckmesser, den Komtur im Don Juan [sic], den Doktor Bartolo und viele andere ganz disparate Figuren bringt er mit geschickter Wandlungsfähigkeit und fleißiger Detailkunst.« (Richard Specht: Gustav Mahler, 1913).

Alexander Haydter

Alexander Haydter (1872-1919)

Mahler hatte Haydter, der am Deutschen Theater in Prag engagiert war, 1905 ins Ensemble der Hofoper geholt. Der 1872 geborene Bassbariton besaß eine fundierte Ausbildung: Zu seinen Lehrern zählte neben Josef Gänsbacher, dem Nestor der Wiener Gesangspädagogen, auch Gustav Geiringer, hoch geschätzter Professor an der Wiener Musikakademie, Vater der Burgschauspielerin Adrienne Gessner, Schwiegervater des für die österreichische Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts so bedeutenden Ernst Lothar – und gut bekannt mit Alma und Gustav Mahler. Möglich also, dass es unter anderem auch Geiringer war, der dem Hofoperndirektor seinen ehemaligen Schüler ans Herz gelegt hatte. Zwar ist das Spielplanarchiv der Staatsoper online noch nicht vollständig erschlossen, doch die konzentrierte Lektüre zeitgenössischer Rezensionen ergibt, dass Alexander Haydter schon zu Jahresbeginn 1905 in zwei Wiener Aufführungen zu erleben war: am 22. Jänner in Fidelio (Rocco, »als Aushilfe berufen für den erkrankten Herrn Hesch«) und am 23. Jänner in der Neuinszenierung von Rheingold (Alberich). Diese Produktionen- sie gelten als bahnbrechend in der Geschichte des Musiktheaters – basierten auf der künstlerischen Zusammenarbeit von Gustav Mahler (Dirigent) und Alfred Roller (Bühnenbild), ebenso wie auch Mozarts Don Giovanni, bei dessen Premiere am 21. Dezember 1905 Haydter ebenfalls auf der Bühne stand.

Alfred Roller: Bühnenbild Fidelio
Roccos Stube: Alfred Rollers Bühnenbild für Fidelio an der Wiener Hofoper. Premiere: 7. Oktober 1904.

Während jener Jahre, die der Sänger unter der Ägide Mahlers verbrachte, wohnte er also in dem schönen Gründerzeithaus Böcklinstraße 90. Meldezettel aus dieser für ihn sicherlich sehr aufregenden Zeit existieren keine, sehr wohl jedoch unter anderem Eintragungen in Lehmanns Adressbuch (unter Valeriestraße 46, der historischen Anschrift dieses Gebäudes). Haydter residierte daher auch im Pratercottage, als nach der oben erwähnten Premiere von Iphigenie in Aulis die Satirezeitschrift Kikeriki Häme über Mahler wie auch über dessen Sängerensemble ergoss (»Wenn der Mahler ein Wirt wär’, hätte ihn die Polizei schon längst beanstandet, weil er seinen ›Gästen‹ das Singen nicht verbietet.«, 21. März 1907) und sein Kollege Leo Slezak den schon entnervten Direktor mit Honorarforderungen und Urlaubsansprüchen quälte (siehe etwa Neues Wiener Journal, 20. März 1907). Und er wohnte in besagtem Haus am Prater, als Gustav Mahler sich am 7. Dezember 1907 resigniert von seinen künstlerischen Mitstreitern verabschiedete:

An die geehrten Mitglieder der Hofoper!

Die Stunde ist gekommen, die unserer gemeinsamen Tätigkeit eine Grenze setzt. Ich scheide von der Werkstatt, die mir lieb geworden, und sage Ihnen hiermit Lebewohl.

Statt eines Ganzen, Abgeschlossenen, wie ich geträumt, hinterlasse ich Stückwerk, Unvollendetes, wie es dem Menschen bestimmt ist.

Es ist nicht meine Sache, ein Urteil darüber abzugeben, was mein Wirken denjenigen geworden ist, denen es gewidmet war. Doch darf ich in solchem Augenblick von mir sagen: ich habe es redlich gemeint, mein Ziel hochgesteckt. Nicht immer konnten meine Bemühungen von Erfolg gekrönt sein. Dem Widerstand der Materie, der Tücke des Objektes ist niemand so überantwortet wie der ausübende Künstler. Aber immer habe ich mein Ganzes daran gesetzt, meine Person der Sache, meine Neigungen der Pflicht untergeordnet. Ich habe mich nicht geschont und durfte daher auch von den anderen die Anspannung aller Kräfte fordern.

Im Gedränge des Kampfes, in der Hitze des Augenblicks blieben Ihnen und mir nicht Wunden, nicht Irrungen erspart. Aber war ein Werk gelungen, eine Aufgabe gelöst, so vergaßen wir alle Not und Mühe, fühlten uns alle reichlich belohnt — auch ohne äußere Zeichen des Erfolges. Wir alle sind weiter gekommen, und mit uns das Institut, dem unsere Bestrebungen galten.

Haben Sie nun herzlichen Dank, die mich in meiner schwierigen, oft nicht dankbaren Aufgabe gefördert, die mitgeholfen, mitgestritten haben. Nehmen Sie meine aufrichtigsten Wünsche für Ihren ferneren Lebensweg und für das Gedeihen des Hofoperntheaters, dessen Schicksale ich auch weiterhin mit regster Anteilnahme begleiten werde.

Gustav Mahler

Laut Richard Specht wurde dieser Brief, der von Mahler in der Hofopernkanzlei affichiert worden war, am nächsten Tag in Fetzen gerissen aufgefunden. Alexander Haydter jedenfalls war, in harschem Gegensatz etwa zum Tenor Fritz Schrödter, wohl stets loyal zum von vielen Seiten – und auch mit antisemitischen Untergriffen – bekämpften Direktor gestanden. Andernfalls hätte Specht vermutlich kaum so ausnehmend freundliche Zeilen über ihn zu Papier gebracht.

Hermine Kittel

Hermine Kittel (1879-1948)

Wie aber ging es mit dem Bassbariton weiter? Bis 1909 lebte der »Solosänger an der Hofoper« (Lehmanns Adressbuch) noch in der Böcklinstraße, 1910 findet man ihn in 1040, Schleifmühlgasse 21, und ab dem 29. März 1911 residiert Alexander Haydter in 1060, Brauergasse 2/7. Letztere Adresse teilt er sich laut Meldezettel mit seiner Gattin, der erfolgreichen Altistin Hermine Kittel, die ebenfalls zu den wesentlichen Stützen des Mahler’schen Hofopernensembles gezählt hatte. Die beiden Künstler dürften ihren ehelichen Alltag jedoch nicht allzu erfolgreich gemeistert haben. Der Gemahl nämlich verlässt schon bald das gemeinsame Heim, lebt, nunmehr als »getrennt« gemeldet, ab November 1912 in 1070, Kirchengasse 41/21-22, und taucht im November 1913 in 1070, Lindengasse 9/10 auf – mit Valerie, der neuen Angetrauten an seiner Seite.

Im März 1916 schließlich übersiedelt der Sänger, der nach Gustav Mahlers Abgang an der Hofoper verblieben war, erneut: Er wechselt in das Haus 1070, Siebensterngasse 42-44/8, in eine Wohnung, die er bis zu seinem frühen Tod gemeinsam mit seiner Frau und seinem Sohn Robert (geb. 1915) bewohnt. Es war die in Wien grassierende Spanische Grippe, die, wie etwa auch Egon Schiele vor ihm, seinem Leben ein jähes Ende setzte: Alexander Haydter verschied am 11. Februar 1919, »nach kurzem, schweren Leiden«, wie man der Todesanzeige (Neue Freie Presse, 13. Februar 1919) entnehmen kann.

Ein Name scheint in besagter Mitteilung verständlicherweise nicht auf. Und dennoch: Auch Hermine Kittel, die viel beschäftigte Opernsängerin, hatte sich wohl (still?) unter die Trauernden gereiht. In einer doch bemerkenswerten Aktion nahm sie nun erneut den Namen des eben Verblichenen an und firmierte schon 1920 in Lehmanns Adressbuch unter »Haydter-Kittel, Hermine«. Und so findet man etwa 1925 ebendort Hermine, die Ex-Gattin, direkt unter Haydters Witwe Valerie – eine skurrile Konstellation.

Lehmanns Adressbuch 1925
Die Witwe, unmittelbar gefolgt von der Ex-Gattin: Valerie Haydter und Hermine Kittel in Lehmanns Adressbuch, 1925.

Hermine Kittel verstarb 1948, knapp zwanzig Jahre nach Alexander Haydter, ihrem einstigen Ehemann, einem der »nobelsten Sänger der deutschen Bühne« (Sport & Salon, 1918). Von ihm existieren mehrere Plattenaufnahmen, die auch im virtuellen, Gustav Mahlers Hofopernzeit gewidmeten Museum der Österreichischen Mediathek vertreten sind. Eine Suche in der Wiener Friedhofsdatenbank hingegen verläuft ergebnislos – die letzte Ruhestätte des ehedem so renommierten Bassbaritons scheint nicht mehr auf.

Dunkel und eindringlich: Alexander Haydter, »die vielseitigste Begabung, unfehlbar die rechten Konturen ziehend« (Richard Specht).
LITERATUR
Richard Specht, Gustav Mahler (Schuster & Loeffler Verlag; Berlin und Leipzig, 1913. Online auf archive.org)
Paul Stefan, Gustav Mahlers Erbe (Hans von Weber Verlag; München, 1908. Online auf archive.org)