»Ich klage deshalb Herrn Karl Kraus an.« Leopold Spitzer, Schüttelstraße 51 (1901, 1902)

Ein Mann sieht rot: 1901 startete Karl Kraus via Fackel einen erbitterten Feldzug gegen »humoristische« Wiener Zeitschriften.

Im Mai 1901 machte Leopold Spitzer eine betrübliche Entdeckung: Er war ins Fadenkreuz geraten. »Kolorierte Pestbeulen der Journalistik«, »ekelhaft«, »humorfrei«, »Fachblätter für die Interessen der Prostitution« – in der neuen Ausgabe der Fackel wurde die Armada der Wiener Witzblätter mit höchst despektierlichen Attributen belegt und Spitzer, Herausgeber der solcherart diffamierten Zeitschrift Die Wespen, reagierte empört. Doch was tun gegen diese, aus seiner Perspektive, bösartige Brandrede? Spitzer wählte eine auch heute in Medienkreisen gern genutzte Taktik: Er ging vor Gericht.

Und so geschah es, dass in der Schüttelstraße die Beschlagnahme der Fackel initiiert und eine Ehrenbeleidigungsklage gegen Karl Kraus in die Wege geleitet wurde; Spitzer und die Wespen nämlich waren auf Nr. 51 angesiedelt, in einem Zinshaus nahe der Sophienbrücke. Den turbulenten Ablauf  der Ereignisse bekam der verstimmte Herausgeber danach sogar in schriftlicher Form dargeboten, allerdings leider erneut in der Fackel, wo Kraus, wutentbrannt, seine Sicht der Dinge detailliert erörterte: »Eines Tages wird mir aus meiner Administration 
telefonisch zugerufen, die Staatsgewalt sei anwesend 
und konfisziere im Auftrage des Herrn Spitzer die 
noch vorhandenen Exemplare der 76. Nummer der Fackel; Herr Spitzer, das seien die Wespen, die Wespen 
seien nicht geschmeichelt, sondern beleidigt und das 
Landesgericht habe die Beschlagnahme des beleidigenden Artikels verfügt. […] Es ist eben eine der empfindlichsten Lücken in unserem Strafgesetz, dass dort nicht ausdrücklich gewisse Beleidigungen freigegeben, wenn nicht geradezu empfohlen sind, dass es nicht gestattet ist, ein Wiener Witzblatt eine Pestbeule, die Wespen ein Fachblatt für die Interessen der Prostitution zu nennen. Ich gab denn auch bei der Einvernehmung meinem Bedauern über diesen Mangel Ausdruck und kondolierte der Justiz, die zur Rehabilitierung des Herrn Spitzer den ganzen, so zeitraubenden Apparat in Bewegung setzen müsse; und der Hoffnung, dass ein neues Strafgesetz Eigentümer schweinischer Zeitungen außerhalb des gemeinen Rechtes stellen und so gegen jede ›Ehrenbeleidigung‹ gewissermaßen immunisieren werde, vermählte sich die Freude, dem Kampf gegen die Witzblattpest nun bald auch das resonanzkräftigere Forum des Gerichtssaales zu gewinnen.«

Kraus mag diesem für ihn nunmehr höchst bedeutsamen Gerichtstermin (»Kampf gegen die Witzblattpest«) also entgegen gefiebert haben – allein, er fand nicht statt. Warum genau, darüber lässt sich trefflich rätseln. Leopold Spitzer jedenfalls ließ die Frist zur Einbringung der Anklageschrift ungenutzt verstreichen, vielleicht auch geplagt von der nicht unberechtigten Sorge, diese Auseinandersetzung könnte seinen Verlag weiter schädigen. Besser also, so mag sich der mittlerweile nachdenkliche Besitzer der Wespen gedacht haben, nun jegliche bisher angelaufenen Verfahrenskosten zu übernehmen als möglicherweise zukünftig durch ein publizistisches Sperrfeuer laufen zu müssen. Der Akt wurde also geschlossen. Roma locuta causa finita? Oh weh, leider nein: Ein Jahr später rotierte Spitzer, für ihn vermutlich bedauerlich, erneut in der Umlaufbahn der Fackel. In Heft 99 (8. April 1902) wird von einem bizarren Gerichtsverfahren berichtet, das der Humorist aus der Schüttelstraße gegen Kammersänger Erik Schmedes angestrengt hatte. Im Prozesssaal als interessierter Beobachter anwesend: Karl Kraus. Doch was war passiert? Tja, die Wespen verfolgten die Praxis, sich für redaktionelle Beiträge bezahlen zu lassen. Schmedes war, wie Spitzer entgeistert registrieren musste, dazu nicht wirklich bereit. Selbst das Auflauern im Café Imperial, wo der schon enervierte Sänger eben mit Bekannten zu Tisch saß, verpuffte eher wirkungslos. Kraus schildert den bewegenden Prozess, der sich zu einer verblüffenden Climax steigerte: »Ich habe der Verhandlung, die mit der
 Verurteilung des Sängers endete, beigewohnt und mir ein Wort 
des Mannes, der mit Feuereifer seinen Anspruch auf die volle Bestechungssumme geltend machte, notiert: ›Herr Schmedes‹, rief er, 
›ist damals zum Kammersänger ernannt worden. Das ist doch ein 
Anlass für ein Witzblatt, ein Bild zu bringen? Wie
 Frau Kaulich das Verdienstkreuz bekommen hat, bin ich auch
 hingegangen zu ihr und hab’ ihr Bild gebracht. Herr Richter, 
ich bring’ kein Bild von selbst!‹ Der Richter bewies volles 
Verständnis für diese Argumentation. […] Und so ging denn Herr Spitzer, der pathetisch versichern durfte, dass er sein Gewerbe seit dreißig Jahren (mit einer zweimonatlichen Unterbrechung) betreibe, erhobenen Hauptes aus der Gerichtsstube.«

Es war also ein durchaus spektakulärer Prozess, der auch von der Neuen Freien Presse engagiert verfolgt wurde. Sie widmete Spitzers, nun ja, unkonventionellem Vorgehen einen ausführlichen Artikel und zierte diesen mit der die Wespen bekümmernden Headline »Journalistische Parasiten«. Getreu dem Motto, dass der Feind meines Feindes ein Freund sei, sprang Karl Kraus, allerdings auf gewohnt ironische Weise, Leopold Spitzer hier sogar hilfreich zur Seite: er betitelte seinen Text mit »Schutz dem Kleingewerbe!«. Denn die Neue Freie Presse, die, konträr zum winzigen Witzblatt aus der Schüttelstraße, tatsächlich eine einflussreiche Institution im Meinungsbildungsprozess darstellte, sie war für den ihr in inniger Gegnerschaft verbundenem Herausgeber der Fackel nichts weniger als ein »rücksichtsloser Großunternehmer der Korruption«. Verglichen mit der mächtigen Tageszeitung also verblassten für Kraus selbst die wildesten Aktivitäten der so aufopferungsbereit durch Wien schwirrenden Wespen.

Auszug aus Lehmanns Adressbuch 1901: Der Verlagssitz der Wespen befand sich in Leopold Spitzers Wohnhaus Schüttelstraße 51.