Karl Kraus, Die Fackel Nr. 99, 8. April 1902

Über der Betrachtung des täglichen Tuns und Unterlassens 
in den großen Betrieben publizistischer Verworfenheit hat die 
Fackel es nie verabsäumt, sich — in ihrer Art — des Kleingewerbes 
der Korruption anzunehmen. Man erinnert sich noch der Behand
lung, die ich den kolorierten Pestbeulen der Journalistik, dem aus 
Frauenschenkeln und Bankinseraten seltsam zusammengesetzten 
Inhalt der sogenannten »Witzblätter« im Vorjahre angedeihen ließ.
 Aber einer Seite der Tätigkeit dieser eine Wiener Spezialität re
präsentierenden Kulturträger ward noch nicht die gebührende 
Aufmerksamkeit erwiesen. Und diese eine Seite ist ihre Titelseite. Sie stellt nur in den seltensten Fällen eine gleichgiltige [sic] 
Schweinerei dar, jenes ewige Klischee, das eine rauchringelnde
 Balleteuse und den nach der Mode der Achtziger Jahre gekleideten 
Kahlkopf in den verschiedensten Stellungen zeigt, und jenen »pikanten« 
Dialog, der seit einem Menschenalter alle Möglichkeiten des 
»Wurzens« erschöpfend variiert. Die Titelseite wird zumeist besseren 
Zwecken vorbehalten: sie ist die illustrierte Empfangsbestätigung 
von zwischen 10 und 100 Gulden schwankenden Beträgen. Wie’s 
der Revolverzufall trifft, wird uns das Konterfei eines Bahnhof
restaurateurs, den der anschließende Text als den bedeutendsten
 Bahnhofrestaurateur der Epoche schildert, oder der Anblick einer
 zu den besten Hoffnungen berechtigenden Buffetdame geboten.
Vor allem aber gewährt — und hier setzt das kriminelle Interesse 
ein — die Leichtgläubigkeit der Provinztheaterleute den illustrierten
 Erpressern reichen Porträtstoff. In Kurorten kann man vor Saisonbeginn den »Chef« mit einem Gehilfen um den Bühneneingang 
schleichen sehen, und in den Theatercafés umlungern sie die Tische, an denen aus der Provinz in die Residenz der Agenten gereiste 
Mimen ihren Zukunftsträumen nachhängen. In solcher Stimmung, 
der die nimmer ruhende Eitelkeit zuhilfe kommt, ist man bereit,
 den letzten Sparpfennig zu opfern, um sich ein »Bild« bei dem
 Herausgeber der Wespen, des Wiener Leben oder des Humorist 
einzulegen. Keiner will sich eingestehen, dass auch der stumpfste 
Leser und ein Direktor, der vor Gedrucktem den denkbar größten
Respekt hat, das bestellte und bezahlte Lob erkennen müsse, und 
jeder fühlt sich durch eine Anerkennung, deren Wortlaut er selbst 
redigiert hat, geschmeichelt.

Aber die Bilderredakteure setzen zumeist auch bei ersten 
Künstlern, die längst in fester Stellung sind, ihre Absicht durch.
 Hier spekulieren sie auf den Mangel an jener Energie, die sich zu 
einem beherzten Hinauswurf aufraffen könnte, und auf die auch 
den Tapfersten beschleichende Furcht vor einem geladenen Revolver. 
Ein Gerichtsfall, der neulich verhandelt wurde, hat das so recht bewiesen. Der Kammersänger Schmedes hatte sich nicht entschließen 
können, dem Eigentümer der Wespen, der ihn während des 
Studiums um Überlassung seiner Photographie nebst dazugehörigen 
30 Gulden bat, die Türe zu weisen, und den Bedränger mit dem 
dritten Teil der Summe abgefertigt. Herr Spitzer »brachte« das 
Bild, verkündete den Ruhm des Herrn Schmedes und ging, da 
er den Restbetrag aussergerichtlich nicht erlangen konnte, vor das 
Bagatellgericht, wo er in überzeugender Weise sein Recht auf die 
zwanzig Gulden verfocht. Ich habe der Verhandlung, die mit der
 Verurteilung des Sängers endete, beigewohnt und mir ein Wort 
des Mannes, der mit Feuereifer seinen Anspruch auf die volle Bestechungssumme geltend machte, notiert: »Herr Schmedes«, rief er, 
»ist damals zum Kammersänger ernannt worden. Das ist doch ein 
Anlass für ein Witzblatt, ein Bild zu bringen? Wie
 Frau Kaulich das Verdienstkreuz bekommen hat, bin ich auch
 hingegangen zu ihr und hab’ ihr Bild gebracht. Herr Richter, 
ich bring’ kein Bild von selbst!« Der Richter bewies volles 
Verständnis für diese Argumentation. Für ihn spielte sich der 
Fall im engen Rahmen eines Zivilstreites ab, und darüber hinaus vermochte er nicht zu blicken. Er sah nur den Kaufvertrag, zu 
dem sich zwei Leute vereinigt hatten und von dem nachträglich 
einer nichts wissen wollte, fühlte nicht, dass es dem Hofopernsänger nicht um den Betrag von 20 Gulden zu tun sein konnte, sondern nur um die prinzipielle Entscheidung in einer für die gebrandschatzte Theaterwelt wichtigen causa, einer typischen causa turpis, und zeigte keine Lust, dem eklen Schauspiel durch Abtretung der Akten an die Strafbehörde ein Ende zu machen. Und so ging denn Herr Spitzer, der pathetisch versichern durfte, dass er sein Gewerbe seit dreißig Jahren (mit einer zweimonatlichen Unterbrechung) betreibe, erhobenen Hauptes aus der Gerichtsstube. Bedauerlicher Weise ist sein Selbstbewusstsein am andern Tage durch einen Bericht der Neuen Freien Presse geknickt worden, die von »journalistischen Parasiten« sprach und der Welt zeigen wollte, dass sie Herrn Spitzer, der sich um eine Summe von 20 Gulden herumbalgt, »fallen gelassen« habe. Das zeugt von einem nicht genug zu tadelnden Hochmut, und ich bleibe nur meinem Programm treu, indem ich gegen die rücksichtslosen Großunternehmer der Korruption das Kleingewerbe in Schutz nehme, das ohnehin arg darniederliegt, wenn die Kammersänger nicht mehr freiwillig zahlen wollen ….

»Ich klage deshalb Herrn Karl Kraus an.« Leopold Spitzer, Schüttelstraße 51 (1901, 1902)

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

Schreibe einen Kommentar