Karl Kraus, Die Fackel Nr. 76, Anfang Mai 1901

Die Verurteilung des Eigentümers der Pschütt-
Caricaturen gibt mehreren Lesern Gelegenheit, Klagen 
über die durch keines Staatsanwaltes Arme zu
dämmende Witzblattseuche anzustimmen. Ich werde
 aufgefordert, mich eingehender mit den kolorierten 
Pestbeulen der Wiener Journalistik zu befassen. Aber 
ich fühle mich stark genug, der Verlockung zu wider
stehen. Die Wiener Witzblätter verunglimpfen, hieße
 sich einen Einfluss auf die erotischen Funktionen der
 Wiener Kaffeehausbesucher anmaßen. Und das liegt
 mir, wie jeder »Eingriff ins Privatleben«, ferne. Die politische Presse hat nicht Dienerin, sondern Erzieherin 
der Menge zu sein; sie ist angriffswürdig, wenn sie
 ihr Geschäft besser als ihre Kulturmission wahrnimmt 
und Pöbelinstinkten zu willfahren beginnt. Die illustrierte 
Witzpresse bleibt in ihrem Geleise, wenn sie die 
Pöbelinstinkte ausnützt; sie darf geistig nicht höher
gestimmt sein als der Leser, dem sie Bedürfnis
artikel ist. Pschütt-Caricaturen, Bombe, Humorist, 
Caricaturen, Wespen, Kleines Witzblatt u. s. w.
 sind so ekelhaft, wie es ihr Publikum verlangt, nicht
 ekelhafter als ihr Publikum. Erfreulich ist, dass das
 Absatzgebiet dieser völlig humorfreien und zumeist
 sudelhaft hergestellten Presserzeugnisse von Jahr zu
 Jahr schmäler wird, traurig, dass noch immer das
 Kaffeehaus, das heimische wie das norddeutsche, die
 Domäne des Geistes bildet, der sich selbst »pschütt«
nennt. Seit zwanzig Jahren hat sich der Inhalt dieser
 Literatur nicht geändert. Die Typen, die dem Nacht
leben von einst entnommen waren, sind ausgestorben,
 aber die alten Klischees werden noch immer verwendet,
 und die unkünstlerisch hergestellten Zeichnungen veranschaulichen uns noch immer den an einem Buffet
 charmierenden Leutnant, den Herr Köystrand vor
 Jahren beobachtet hat, noch immer die auf dem Sofa
 lungernde Lebedame, hinter der eine »Wurzen« steht,
 Rauchwolken ringelnd und die Chancen eines Seebades
 erwägend. Der Text ist jedesmal erneuert, aber er 
dreht sich nach wie vor um den galanten Geschäftsbetrieb.

Auch viele Pariser Witzblätter sind obszön, aber
 man weiß, dass an diesen wirkliche Künstler des 
modernen und mondänen Illustrationsgenres tätig
 sind. Unsere Witzblätter sind nur gemein und albern,
 in Wort und Bild: nichts als Fachblätter für die Interessen
 der Prostitution im redaktionellen wie im Annoncen
teile. Und es lässt sich leider nicht in Abrede stellen,
 dass man in Deutschland Caricaturen und Bombe 
nach wie vor als die Repräsentanten der Wiener Literatur und des wienerischen Geistes betrachtet und allwöchentlich mit Ungeduld erwartet. Da mangelnde Grazie in erotischen Dingen der norddeutschen Art immerhin nicht fernliegt, so setzt die hohe Meinung, die man in Berlin von den Wiener Witzblättern hat, eher den norddeutschen als unseren Geschmack herab. Und es ist nicht jene beleidigende Sympathie für das Österreichische, jenes hochmütige Ergötzen an inferiorer »Gemütlichkeit«, das sonst den Ton norddeutscher Gastfreundlichkeit bestimmt. Bismarck freilich, der die Mitarbeit der ausgesuchtesten Dummköpfe Österreichs an den Hamburger Nachrichten mit Wohlgefallen sah, mochte es zufrieden sein, dass den Deutschen die die Berliner Kaffeehäuser überschwemmende Witzbelletristik als das untrügliche Spiegelbild österreichischen Lebens galt. Aber uns kann es zur Genugtuung gereichen, dass die Norddeutschen dort noch immer Grazie und Feschheit sehen, wo wir längst nichts anderes mehr als Ekel und Langeweile empfinden, dass die Berliner Lebewelt sich reinen Herzens heute noch an einer Sorte von »Pikanterie« erquickt, über deren Monotonie und Widerwärtigkeit der gute Geschmack bei uns längst schlüssig geworden ist. Es bedarf nur mehr eines solidarischen Vorgehens der Cafetiers, die einfach den Mut haben müssten, sich eine Ersparnis von mehreren Jahresabonnements zu gönnen: sie können bei der Erziehung ihres Publikums nur profitieren. Es ist noch immer ein erquicklicherer Anblick, ergraute Sektionschefs auf der Stadtbahn sich in die Lektüre des Kleinen Witzblatt vergraben als im Kaffeehause am Sonntag junge Haustöchter einander die Pschütt-Caricaturen entreißen zu sehen.

»Ich klage deshalb Herrn Karl Kraus an.« Leopold Spitzer, Schüttelstraße 51 (1901, 1902)

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

Schreibe einen Kommentar