Karl Kraus, Die Fackel Nr. 80, Mitte Juni 1901
In Nr. 76 bin ich den kolorierten Pestbeulen der Wiener Journalistik nahegekommen. Eine ging auf. Sie fühlte sich getroffen und wollte beweisen, dass sie keine sei. Herr Leopold Spitzer, Eigentümer der Wespen, ging hin und klagte mich an. Damals erfuhr ich, dass der Eigentümer der Wespen Spitzer heiße. Das setzte mich weniger in Erstaunen als sein Entschluss, mich anzuklagen. Ich hatte sein Organ unter den anderen den Fachinteressen der Prostitution dienenden Journalen erwähnt und bestimmt darauf gerechnet, dass die Wespen es als ein Kompliment auffassen würden, in einem Atemzuge mit den Pschütt-Caricaturen genannt zu werden; denn welches Blatt könnte es wagen, sich diesem in der Technik der koloristischen Schweinerei zu vergleichen? Aber nein. Eines Tages wird mir aus meiner Administration telefonisch zugerufen, die Staatsgewalt sei anwesend und konfisziere im Auftrage des Herrn Spitzer die noch vorhandenen Exemplare der 76. Nummer der Fackel; Herr Spitzer, das seien die Wespen, die Wespen seien nicht geschmeichelt, sondern beleidigt und das Landesgericht habe die Beschlagnahme des beleidigenden Artikels verfügt. Damals ist mir die Staatsgewalt als eine Märtyrerin erschienen. Sie erkennt gewiss die heil same Notwendigkeit, Presserzeugnisse wie die Wespen mit Feuer und Fackeln zu vertilgen. Einen Monat vorher hatte sie den Eigentümer der Pschütt-Caricaturen subjektiv verfolgt, und die Zustimmung aller reinlichkeits liebenden Kaffeehausbesucher war damals nur durch das Bedauern getrübt, dass die Staatsgewalt neun Jahre liberaler Duldung brauche, um im zehnten zu einer energischen Aktion gegen die Witzblattpest auszuholen. Da ich die subjektive Verfolgung der illustrierten Schandliteratur fortsetzte, konnte ich mir schmeicheln, freiwillig ein im besten Sinne offiziöses Werk zu verrichten. Und nun, da ich’s begonnen, fährt mir das k. k. Landesgericht dazwischen? Legt seine schützende Hand auf die geheiligte Person des Herrn Leopold Spitzer? Beauftragt die Polizei, jene Nummer der Fackel den Augen der Öffentlichkeit zu entziehen, in der über die Wespen und verwandte Blätter gesagt ward, was niemand geringerer als der Staatsanwalt ein paar Wochen zuvor gesagt hatte? Sollte ich, weil ich mich um das Gemeinwohl verdient gemacht, nach Athener Sitte, wenn schon nicht lebenslänglich, so doch durch ein paar Monate auf Staatskosten gespeist werden? Nun, Herr Spitzer war, wiewohl ich seinen mir bis dahin unbekannten Namen überhaupt nicht genannt hatte, »beleidigt« worden, und dem formalen Anspruch auf Beschlagnahme und Einleitung der Voruntersuchung gegen mich konnte sich das Gericht nicht entziehen. Der Arm der Gerechtigkeit mag, sagte ich mir, gezögert haben, die Hand des Herrn Spitzer, die sich ihm entgegenstreckte, zu fassen; aber er konnte, wo äußerlich so etwas wie ein »Tatbestand« gegeben war, nicht gut zurück. Es ist eben eine der empfindlichsten Lücken in unserem Strafgesetz, dass dort nicht ausdrücklich gewisse Beleidigungen freigegeben, wenn nicht geradezu empfohlen sind, dass es nicht gestattet ist, ein Wiener Witzblatt eine Pestbeule, die Wespen ein Fachblatt für die Interessen der Prostitution zu nennen. Ich gab denn auch bei der Einvernehmung meinem Bedauern über diesen Mangel Ausdruck und kondolierte der Justiz, die zur Rehabilitierung des Herrn Spitzer den ganzen, so zeitraubenden Apparat in Bewegung setzen müsse; und der Hoffnung, dass ein neues Strafgesetz Eigentümer schweinischer Zeitungen außerhalb des gemeinen Rechtes stellen und so gegen jede »Ehrenbeleidigung« gewissermaßen immunisieren werde, vermählte sich die Freude, dem Kampf gegen die Witzblattpest nun bald auch das resonanzkräftigere Forum des Gerichtssaales zu gewinnen. Ich weiß, dass die Herren im Landesgericht für ein paar heitere Augenblicke zwischen Stunden trockener Büroarbeit nicht undankbar sind, und ich kann verraten, dass seit dem Tage, an dem Herr Otto Frischauer mich belangen wollte, weil ich ihn einen klebrigen Herrn geheißen hatte, in den Zimmern des grauen Hauses nicht so herzlich gelacht worden ist wie damals, als die Meldung des Herrn Spitzer, dass jemand die Wespen beleidigt habe, einlief und als Herr Spitzer persönlich erschien, um den Schritt der rächenden Gerechtigkeit zu beschleunigen. Ja, ich glaube, dass die Anzeige des Eigentümers der Wespen sogar mehr Heiterkeit geweckt hat als je eine Nummer der Wespen selbst. Und so gebe ich sie denn mit allen grammatikalischen und orthographischen Eigentümlichkeiten des Originals wieder:
Eingelangt etc. 22. Mai 1901. Pr. XXXV 153/1-1
Hochlöbliches k. k. Landesgericht!
Herr Karl Kraus, Herausgeber und verantwortlicher Redakteur
der periodischen Druckschrift Die Fackel, hat in seiner anfangs Mai
erschienenen Nr. 76 auf Seite 10, 11 und 12 unter der Aufschrift
Witzblätter unter andern auch das von mir herausgegebene Witzblatt Die Wespen als Pestbeule der Wiener Journalistik als
ekelhaft und sudelhaft hergestelltes Presserzeugnis hingestellt, er
hat dasselbe nur als gemein und albern in Wort und Bild, nur als
Fachblätter für die Interessen der Prostitution bezeichnet und auf
diese Weise Schmähungen gegen mein Journal gebraucht, durch
welche ich mich in meiner Ehre schwer gekränkt fühle.
Ich klage deshalb Herrn Karl Kraus wegen Vergehens nach
§§ 488, 491 St. G. an und stelle durch meinen in A ausgewiesenen
Anwalt die ergebene Bitte:
Das hochlöbliche k. k. Landesgericht geruhe den Angeklagten
nach dem Gesetze zu bestrafen bezw. den Akt an das k. k. Bezirks
gericht Josefstadt zur Amtshandlung abzutreten, jedenfalls wolle
das hochlöbliche k. k. Landesgericht die Beschlagnahme der sub Nr. 76
erschienenen periodischen Druckschrift Die Fackel zu bewilligen, und
bezüglich der Beschlagnahme der noch vorhandenen Nummern in
der Administration der Fackel, ferner in den Zeitungsbüros
Hermann Goldschmidt, Robert Weiss, I., Wollzeile und in allen
k. k. Tabaktrafiken und Buchhandlungen das Erforderliche zu veranlassen.
Leopold Spitzer.
Dem Akt ward dann das folgende »Protokoll, aufgenommen am 23. Mai 1901« beigelegt:
Erscheint über Vorladung Herr Dr. Benisch und erklärt den
Passus auf Abtretung des Aktes an das Bezirksgericht Josefstadt
zurückzuziehen und ersucht um Erledigung der beantragten Beschlag
nahme.
Crespi. Mixa. Dr. Benisch.
Es erscheint nachträglich, ohne vorgeladen zu sein, Herr
Leopold Spitzer und ergänzt die erstattete Anzeige durch den
weiteren Antrag auf Einleitung der Voruntersuchung gegen Karl
Kraus wegen Vergehens der Ehrenbeleidigung.
Crespi. Mixa. Leopold Spitzer.
Man sieht, Klient und Advokat — gewiss, ein
Wiener Hof- und Gerichtsadvokat hat jenes Strafgesuch stilisiert — waren sich über den sichersten
Weg, der zu meiner Bestrafung führen könnte,
nicht klar. Die liebenswürdige Bescheidenheit, mit
der sie einer eventuellen »Abtretung des Aktes
an das k. k. Bezirksgericht Josefstadt« zustimmten,
rührte mich, die Offenherzigkeit des Klägers, der am
liebsten das Schwurgericht umschifft und an den Klippen
des Wahrheitsbeweises vorbei in dem sichern Hafen
der vernachlässigten pflichtgemäßen Obsorge gelandet
wäre, war nichts weniger als unsympathisch. Der Kläger
war geständig, aber ich konnte ihm nicht den Gefallen
tun, vor Gericht zu sagen, ich hätte den Artikel vor
der Drucklegung nicht gelesen. Hatte ich denn, als ich
schrieb, die Wiener Witzblätter seien die kolorierten
Pestbeulen der Journalistik, meine pflichtgemäße Obsorge vernachlässigt? Im Gegenteil: ich hatte sie im
höchsten Grade erfüllt. So blieb denn für beide Teile
nichts übrig, als geduldig dem Tage des Schwurgerichts
entgegenzuharren. Wenn einer einmal beleidigt worden
ist, muss er die Konsequenzen tragen. Oder gäbe es noch
einen Ausweg? Kann man auch, wenn man Gericht
und Polizei bereits hinreichend behelligt hat, im letzten
Augenblick zurücktreten?
Eben war ich daran, über diese Frage nachzu
denken, als der Gerichtsdiener an meine Tür klopfte
und mir ein Schriftstück überreichte, das den folgenden
Text enthielt:
Vom k. k. Landesgerichte in Wien.
An Se. Wohlgeboren Herrn Karl Kraus, Herausgeber und ver
antwortlichen Redakteur der Fackel.
Pr. XXXV 153/1-1
Die gegen Sie über die Privatklage des Leopold Spitzer
wegen Vergehens gegen die Sicherheit der Ehre eingeleitete Voruntersuchung wurde wegen Rücktritts des Anklägers von
der strafgerichtlichen Verfolgung eingestellt, nachdem die zur Einbringung der Anklageschrift offenstehende 14tägige Frist fruchtlos
abgelaufen ist. (§§ 109, 112 St. P. O.)
Wien, am 15. Juni 1901.
Der k. k. Landesgerichtsrat:
Crespi.
Eine Ehrenerklärung hat mir Herr Leopold Spitzer,
Eigentümer der Wespen, nicht ausgestellt. Aber das
angenehme Gefühl, durch drei Wochen beleidigt ge
wesen zu sein, muss er jetzt mit den beiderseitigen Anwaltskosten, mit den Spesen der Konfiskation, dem
Schadenersatz für die konfiszierten Exemplare u. s. w.
bezahlen. Immerhin, Herr Spitzer ist billig davongekommen. Man weiß, nicht jede Schwurgerichtssache
endet so glimpflich; nicht einmal dann, wenn man
bloß Angeklagter ist. Und Herr Spitzer kann die Unterlassung der Klage sogar als einen ehrenvollen Ausgleich darstellen: Tausendmal haben die Wespen den
guten Geschmack beleidigt, und der gute Geschmack
hat nicht ein einziges Mal geklagt; so ziehen denn auch
die Wespen ihre Klage zurück, da sie vom guten
Geschmack bloß einmal beleidigt wurden. Ich aber
muss mich in Geduld fassen. Vielleicht habe ich mit
einer der anderen von mir »namentlich angeführten«
kolorierten Pestbeulen mehr Glück. Noch ist ja die Frist
zur Erstattung einer Anzeige nicht verstrichen; und es
sollte mich wundern, wenn Caricaturen, Pschütt und Kleines Witzblatt nicht auch eine Ehre zu verteidigen
hätten.
— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — –
Nr. 76 der Fackel ist wieder freigegeben. Aber
die Agitation, die sie angeregt, war auch durch die
Beschlagnahme nicht unterbrochen. In jenem Artikel,
der die Ehre des Eigentümers der Wespen so sehr
getroffen hat, dass er beinahe eine Klage eingebracht
hätte, standen die Sätze: »Erfreulich ist, dass das Absatzgebiet dieser völlig humorfreien und zumeist sudelhaft hergestellten Presserzeugnisse von Jahr zu Jahr schmäler wird, traurig, dass noch immer das Kaffeehaus, das heimische wie das norddeutsche, die Domäne
des Geistes bildet, der sich selbst pschütt nennt ….
Es bedarf nur mehr eines solidarischen Vorgehens
der Cafetiers, die einfach den Mut haben müssten,
sich eine Ersparnis von mehreren Jahresabonnements
zu gönnen: sie können bei der Erziehung ihres Pu
blikums nur profitieren.« In dankenswerter Weise hat
nun ein Wiener Schriftsteller, Herr Paul v. Schönthan,
dieser Mahnung zu größerer Publizität verholfen. In
einer Berliner Feuilletonkorrespondenz ließ er einen
Aufsatz über »Wiener Witz und Wiener Ernst« erscheinen, der nun durch die ganze reichsdeutsche und
einen Teil der österreichischen Provinzpresse die Runde
macht. Die Fackel habe, heißt es dort, »ein Thema zur
Sprache gebracht, das im Ausland — besonders in dem
mit Wiener Kaffeehäusern reichlich gesegneten Berlin —
bekannt zu werden verdient …« Nicht mit Unrecht
gebe sie »der Besorgnis Ausdruck, dass man im
Reich durch die importierten sogenannten Witz
blätter Wiener Herkunft von der spezifischen Eigenart
unseres Volkscharakters, unseres Humors und unserer
Witzart einen recht despektierlichen Begriff bekommen
müsse. Kein Schluss wäre trügerischer als der, dass
jene Witzblätter die Wiener Art verkörperten, und es
ist kein Ausfluss des beschönigenden Lokalpatriotismus,
wenn man die Gelegenheit ergreift, dies ausdrücklich zu konstatieren«. Das Witzblatt-Genre »war niemals
wienerisch und hat hier niemals einen nennenswerten
Erfolg, niemals eine ehrende Beachtung gefunden; man
soll auch nicht glauben, dass sich ihm die Familie erschlossen hat. Das Kaffeehaus ist das einzige Terrain,
auf dem es sich bisher behauptet hat. Die Fackel richtet
deshalb mit voller Berechtigung an die Wiener
Cafetiers die Mahnung, damit aufzuräumen und die
Haustöchter — die ja wohl auch in Begleitung der Mama
oder Eltern ein Kaffeehaus betreten — davor zu bewahren,
dass ihnen der Kellner eine Anzahl derartiger pikanter
Journale mit anstößigen Illustrationen und ebenso
ordinären als witzarmen Texten vorlegt. Hoffentlich
beherzigen die Cafetiers diese Apostrophe. Es
würde keine Lücke entstehen, wenn diese periodische
Literatur verschwände«. Es bestehe die Gefahr, dass man
im Reiche »von unserem Witz und unserer Tugend üble
Vorstellungen bekommt. Das wäre uns nicht lieb und
nicht dienlich. Darum hat die Fackel einen glücklichen
Einfall gehabt, als sie das delikate Thema einmal rücksichtslos vor die Öffentlichkeit brachte.«
Die Fackel geht noch weiter. Sie ist bereit,
die Namen jener Cafetiers zu veröffentlichen, die sich
zur Reinigung ihres Lokals entschlossen haben, jener
Kellner, die sich weigern, dem brünstig verlangenden
Gast ein Wiener Witzblatt zu reichen, und jener
Gäste, die geneigt sind, die Last von Witzblättern,
die der Kellner freiwillig vor ihnen aufgeschichtet hat,
mit dem Fuße vom Sessel hinunterzustoßen.
»Ich klage deshalb Herrn Karl Kraus an.« Leopold Spitzer, Schüttelstraße 51 (1901, 1902)
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