Dieses Zusammentreffen wäre möglich gewesen. Und vielleicht ist es ja auch tatsächlich passiert. Vielleicht sind sie sich, in einem ganz bestimmten Zeitfenster rund um 1913/1914, an der Ecke Wittelsbachstraße und Rustenschacherallee begegnet, wohnten sie allesamt doch nur wenige hundert Meter voneinander entfernt im Pratercottage: Der kleine Elias Canetti, die politisch engagierten Kinder des Philosophen Rudolf Eisler – und Else von Biedermann-Turony, geborene Bleichröder, die Tochter von Bismarcks engem Vertrauten, der geliebte Augenstern dieses Berliner Bankiers, der zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der internationalen Finanzwirtschaft zählte und als einer der reichsten Männer Deutschlands galt.
Canetti besuchte in oben angesprochenem Zeitfenster zudem die Schule in der Wittelsbachstraße – sie grenzte an die Biedermann-Bleichröder’sche Villa in der Rustenschacherallee 28 (damals: Prinzenallee). Von Hanns Eisler weiß man, dass er als Teenager regelmäßig Fußball spielte – auf der Jesuitenwiese, die sich vis-à-vis von eben jener Villa befand. Das hier auf Grund seiner jeweiligen Bewohner (der Großindustrielle Hans Emil Gutmann und seine Gattin Rositta, der US-Diplomat Leland B. Morris, der kommunistische Intellektuelle Ernst Fischer und seine von Hanns Eisler geschiedene Frau Lou) schon mehrfach erwähnte Gebäude wurde mittlerweile abgerissen, ein Schicksal, das es mit dem 1913 von Elses Bruder Hans für seine Familie errichteten Mausoleum teilte. Einzig die dafür verantwortlichen Protagonisten unterschieden sich: Im kommunistischen Ost-Berlin war es Präsident Wilhelm Pieck gewesen, der 1950 das Bleichröder’sche Grabmal am Zentralfriedhof Friedrichsfelde schleifen ließ – einige Monate zuvor hatte, welch merkwürdige Koinzidenz, Hanns Eisler die DDR-Hymne komponiert.
Gerson von Bleichröder (1822-1893), Elses Vater, hingegen ruht in seiner nach wie vor unveränderten Gruft am Jüdischen Friedhof Schönhauser Allee. Ihm, dem nach Abraham Oppenheim zweiten nicht-getauften Juden, der in Preußen geadelt wurde, widmete der prominente US-amerikanische Historiker Fritz Stern mit Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder (Ullstein Verlag, 1978) eine ausführliche Abhandlung, die sich mit der für Europas Historie so schicksalhaften Wechselbeziehung zwischen dem Bankier und dem deutschen Reichskanzler befasst, eine Abhandlung zudem, die detailliert wichtige Aspekte der Wirtschafts- und Finanzpolitik des 19. Jahrhunderts analysiert und den aggressiven Antisemitismus, dem Bleichröder ausgesetzt war, erforscht.
»Wirklich, der Schwiegersohn ist ein durchaus biederer Mann. Ich hege keinen Zweifel, dass der Bund der beiden zum wahren Glück führen wird«, bemerkte nun, so liest man in Gold und Eisen, der zufriedene Bleichröder über Rudolf von Biedermann-Turony (auch: Biedermann von Turony, Biedermann de Turony, Anm.), der 1889 seine einzige Tochter geheiratet hatte. Was man von Stern, geboren 1926 in Breslau und ein Experte für die deutsche Geschichte, nicht erfährt: Der so freundlich empfangene Schwiegersohn entstammte einer sehr bedeutenden österreichischen Familie, deren Mitglieder vor allem im Bankwesen, aber auch bei der Gründung der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde, bei der Entwicklung des europäischen Eisenbahnverkehrs (die Kaiser Ferdinands-Nordbahn!) sowie in diversen industriellen Unternehmungen eine herausragende Rolle gespielt hatten.
Gold und Eisen, von Golo Mann in der Neuen Zürcher Zeitung unter die »bedeutendsten historischen Werke unserer Jahrzehnte« gereiht, ist daher zwar in der Tat höchst lesenswert, und dennoch lässt sich eine schmerzliche Lücke ausmachen: Obwohl Fritz Stern unter anderem die Korrespondenz zwischen Bleichröder, der das Haus Rothschild in Berlin vertrat, und seinem am Wiener Opernring Nr. 6 ansässigen Freund Moritz Ritter von Goldschmidt, einem Mitglied der Familie Rothschild und einflussreicher Prokurist des österreichischen Bankhauses S. M. von Rothschild, auswerten konnte, bleibt das Verhältnis des Berliner Bankiers zur politischen und wirtschaftlichen Elite der Donaumonarchie in seiner Darstellung eher blass und fragmentarisch.
Da Rudolf von Biedermann-Turony und seine Frau Else von ca. 1911 – ca. 1920 auch in der Rustenschacherallee wohnten (Quellen u. a.: Lenobels Häuser-Kataster 1911-12, Lehmanns Adressbuch, Mitgliederverzeichnis der Dendrologischen Gesellschaft 1911/12), erscheint es daher angebracht, etwas Licht ins Dunkel zu bringen und hier in loser Folge diesbezügliche Beiträge zu veröffentlichen, Beiträge, die sich unter anderem auch mit der Wirtschaftsgeschichte der Donaumonarchie beschäftigen und in die tschechische Stadt Teltsch (Telč) ebenso führen wie in die ungarische Gemeinde Szentegát.
Als Einführung hierzu soll jener Nachruf dienen, den die Wiener Neue Freie Presse am 20. Februar 1893 nach Gerson von Bleichröders Ableben veröffentlichte. Der Artikel umfasste mehrere Seiten und unterstrich die eminente Bedeutung des Berliner Bankiers:
»Gerson v. Bleichröder ist gestern im 71. Lebensjahre gestorben. Er war die markanteste Figur der Berliner Finanzwelt und gehörte zu den hervorragendsten Bankiers in Europa. Durch seinen Tod verschwindet nicht allein eine Persönlichkeit, welche durch Scharfsinn und große Unternehmungslust ausgezeichnet war, sondern auch eine Gestalt, die sich nicht so leicht in der bestimmten Eigenart, wie sie sich in Bleichröder verkörperte, erneuern wird. Der Chef des Hauses S. Bleichröder war bis zu einem gewissen Grade ein Wahrzeichen des Berliner Marktes, und der große Aufschwung des von ihm geleiteten Bankhauses vollzog sich aus den gleichen Ursachen, welche auch die internationale Bedeutung des Berliner Marktes geschaffen haben.
Das charakteristische Moment in der Wirksamkeit Bleichröders bestand darin, dass er ein Bindeglied war zwischen der politischen und der rein finanziellen Sphäre, und dass die größten Aktionen, welche er durchgeführt hatte, einen gewissen politischen Einschlag hatten, indem er in allen jenen Fällen, wo die Realisierung von Geschäften entweder politischen Zwecken diente oder doch die politischen Strömungen unterstützte, das Werkzeug der preußischen Minister in den letzten Jahren gewesen ist. Aus diesem Verhältnisse ergab sich mit Notwendigkeit die Tatsache, dass Herr v. Bleichröder Beziehungen zu politischen Persönlichkeiten fast in allen Hauptstädten Europas besaß, und dass ihm Informationen zuströmten, über welche in gleicher Fülle selten ein Bankier gebot.
Insbesondere schenkte ihm Fürst Bismarck sein Vertrauen in hervorragender Weise. Dieses Verhältnis war in ganz Europa bekannt, und man hat sich wiederholt über dasselbe gewundert. Ein ganzer Kreis von Legenden hat sich über den Ursprung dieses Freundschaft gebreitet, und die Feinde des Fürsten Bismarck sind auch vor brutalen Verleumdungen nicht zurückgeschreckt. Man wird sich erinnern, dass noch vor der Periode des Antisemitismus, vor etwa fünfzehn Jahren, die konservative Partei in Preußen in der Reichsglocke einen Sturm gegen den Reichskanzler unternahm, der unter dem Schlagworte ›Die Ära Bismarck-Bleichröder‹ begonnen hat. Das Verhältnis war jedoch ein ganz natürliches. Die preußische Regierung und ganz besonders Fürst Bismarck haben stets ihre Stärke darin gesucht, über alle politischen, militärischen und wirtschaftlichen Vorgänge aufs genaueste unterrichtet zu sein. Der preußische Spion ist zum Schreckgespenst in Frankreich geworden, aber hinter dieser gehässigen Bezeichnung ist das richtige Bestreben einer Regierung zu erkennen, alle wichtigen Tatsachen, welche die Entwicklung und das Kräfteverhältnis der Völker bestimmen, genau und möglichst rasch zu erfahren. Die Politik ist schließlich eine Erfahrungswissenschaft, und induktive Schlüsse lassen sich nur dann mit Sicherheit ziehen, wenn das Material, welches die Voraussetzung bildet, verlässlich und groß genug ist. Nun ist es gewiss nicht zu leugnen, dass gerade die wirtschaftlichen und finanziellen Tatsachen sich am häufigsten mit den politischen Bewegungen verschlingen und fast gar nicht von denselben loszulösen sind. Die preußische Regierung brauchte daher einen Fachmann, welcher ihr über die Erscheinungen auf diesem Gebiete einen fachgemäßen Aufschluss zu geben und vielleicht auch in einzelnen Fällen, wenn es im Interesse der Regierung lag, einen Einfluss auf die finanzielle Bewegung auszuüben vermochte. Es war nicht leicht, gerade in Berlin einen Mann zu finden, welcher diesen Bedingungen entsprach. Vor dreißig Jahren war Berlin ein höchst unbedeutender Markt, und die großen Strömungen des Kapitals waren dort am wenigsten fühlbar.
Das Augenmerk der preußischen Regierung musste sich aber mit Notwendigkeit auf den Chef der Firma Bleichröder richten. Das Haus S. Bleichröder ist am Anfange dieses Jahrhunderts, nämlich 1803, in Berlin von dem Vater des Verstorbenen gegründet worden. Es entfaltete eine sehr bescheidene Tätigkeit und schwang sich erst ein wenig empor, als im Jahre 1829 Anselm v. Rothschild nach Berlin kam, um dort eine Vertretung seines Hauses zu etablieren. Die Wahl fiel auf S. Bleichröder, welcher über sehr geringe Mittel verfügte, aber durch seine Rechtlichkeit in Berlin vorteilhaft bekannt war. Durch die Vertretung des Hauses Rothschild gelangte die Firma S. Bleichröder in den Weltverkehr, obschon das Haus noch mehrere Jahrzehnte hindurch nur einen mittleren Rang einnahm. Für die Zwecke der preußischen Regierung war jedoch die Berliner Vertretung des Hauses Rothschild am besten geeignet, denn hier war ein wichtiger Beobachtungspunkt gewonnen. So erklärt sich das Verhältnis zwischen Gerson v. Bleichröder, der nach dem Tode seines Vaters im Jahre 1855 der Chef der Firma geworden war, und der preußischen Regierung auf ganz natürliche Weise. Es mag sein, dass hier, wie stets im Leben, auch der Zufall eine wichtige Rolle spielte, und es ist in Berlin wiederholt erzählt worden, dass Herr v. Bleichröder schon in der Konfliktszeit und demnach in einer Periode, wo Fürst Bismarck sich in einer äußerst schwierigen Situation befand und von allen Seiten bekämpft wurde, dessen große Bedeutung erkannte, sich ihm anschloss und vielleicht auch Gelegenheit gefunden hat, ihm auf finanziellem Gebiete politische Dienste zu leisten. Fürst Bismarck war damals noch nicht der mächtige Staatsmann, und es ist daher möglich, dass er für jeden Beweis der Freundlichkeit besonders empfänglich war und sich dafür in der Periode seines Glanzes dankbar zeigte.
Das Verhältnis wäre trotzdem nicht zu erklären, wenn Fürst Bismarck nicht in dem Talente Bleichröders das geeignete Instrument für seine Zwecke entdeckt hätte. So gewöhnte er sich daran, sich über die finanziellen Operationen des preußischen Staates mit Herrn v. Bleichröder zu beraten, und das trat bei mehreren Gelegenheiten auch in der Öffentlichkeit hervor. Vor dem Beginne des deutsch-österreichischen Krieges wurde auf Vorschlag Bleichröders durch eine Operation mit der Köln-Mindener Bahn ein Teil der Mobilisierungskosten beschafft. Während der Verhandlungen über die Friedens-Präliminarien mit Frankreich wurde Bleichröder nach Versailles berufen und dort um seinen Rat über die Höhe der Kriegsentschädigung befragt. Als damals die deutsche Regierung von Frankreich fünf Milliarden forderte, war allgemein die Ansicht verbreitet, dass eine solche Summe gar nicht aufzubringen sei. Bleichröder und Bamberger, der ebenfalls nach Versailles berufen wurde, erklärten jedoch, dass eine solche Summe den Rahmen des Möglichen absolut nicht übersteige und von der reichen französischen Nation mit Leichtigkeit beschafft werden könne. Im Namen der provisorischen Regierung führte damals Jules Favre die Verhandlungen in Versailles, und in einer Konferenz mit Herrn v. Bleichröder meinte der französische Staatsmann, die Summe von fünf Milliarden sei so groß, dass ein Mann, welcher am Tage der Geburt Christi mit der Zählung eines solchen Betrages begonnen hätte, bis zum Momente dieser Konferenz damit nicht hätte fertig werden können. »Sie mögen Recht haben«, antwortete Herr v. Bleichröder, »dass es nicht möglich sei, einen solchen Betrag seit der Geburt Christi zu zählen, aber ich bin in einer anderen Lage, ich zähle seit der Erschaffung der Welt.« An den schwierigen Operationen, welche mit der Überweisung der fünf Milliarden an Deutschland verknüpft waren, hat Herr v. Bleichröder einen hervorragenden Anteil genommen. Auch später war er wiederholt im politischen Interesse der preußischen Regierung tätig. Im Jahr 1872 war eine staatsfinanzielle Krise in Rumänien ausgebrochen, und da die preußische Regierung Wert darauf legte, den hohenzoller’schen Thron in Bukarest zu erhalten, und da überdies mehrere preußische Aristokraten, wie der Fürst Putbus, sich durch Strousberg (Bethel Henry Strousberg, Anm.) hatten verleiten lassen, große Engagements in rumänischen Eisenbahn-Unternehmungen einzugehen, so bemühten sich Herr v. Hansemann und Herr v. Bleichröder mit Erfolg, ein Arrangement zu erzielen. Damals wurde Herr v. Bleichröder geadelt, eine Belohnung, welche bekanntlich in Preußen für finanzielle Dienste selten gewährt wird.
Auch bei der Verstaatlichung der preußischen Eisenbahnen spielte Herr v. Bleichröder eine hervorragende Rolle. Die preußische Regierung hat bekanntlich ein anderes System befolgt als das österreichische Handelsministerium. Hier wird mit den Verwaltungen verhandelt, in Preußen dagegen wurde das Anerbieten der Regierung im Amtsblatt kundgemacht, und es war Sache der Generalversammlung, dasselbe anzunehmen oder abzulehnen. Von der sanften Gewalt, die in anderen Ländern bei solchen Gelegenheiten geübt wird, hat man in Preußen keinen Gebrauch gemacht, aber es lag doch im Interesse der preußischen Regierung, die Stimmung und Gesinnung der Aktionäre kennen zu lernen, ehe sie ihr Anerbieten feststellte. Dazu bediente sie sich der Mitwirkung des Herrn v. Bleichröder. Preußen hatte sich entschlossen, für den Bau der Gotthardbahn eine Subvention zu gewähren, ohne daran Bedingungen zu knüpfen, welche die Tarifhoheit der Schweiz wesentlich beschränken. Nun war es der preußischen Regierung darum zu tun, einigen Einfluss auf die Verwaltung zu gewinnen, und Herr v. Bleichröder kam diesem Wunsche dadurch entgegen, dass es ihm gelang, in die Verwaltung der Gotthardbahn gewählt zu werden.
Nach dem Berliner Kongresse musste Fürst Bismarck sein Augenmerk auf die Verhältnisse in Konstantinopel lenken, und er war bemüht, den deutschen Einfluss beim Sultan und bei der Pforte zu stärken. Sofort schritt Herr v. Bleichröder als finanzieller Vorposten voraus, und bald stand er im Mittelpunkt der türkischen Geschäfte. Das Haus Bleichröder entsendete einen Vertreter in die europäische Verwaltung der türkischen Schuld, und es war unter den Gründern der türkischen Tabakregie-Gesellschaft und hatte einen Anteil am Bau der sogenannten Raccordement-Linien, durch welche das europäische Schienennetz mit Konstantinopel verbunden wurde, es gehörte zu den Emissionsstellen der ägyptischen Konversionsschuld, und es wurde bald eines der größten Bankhäuser der Welt.
Herr v. Bleichröder hatte unzählige persönliche Beziehungen auf allen Plätzen Europas und auf den großen überseeischen Märkten. Er korrespondierte mit den wichtigsten Bankiers und Spekulanten, und er verstand es, durch die Pflege dieses schriftlichen Verkehrs einen enormen Einfluss auszuüben, sich die wichtigsten Nachrichten zu verschaffen, und mit seinem Vermögen und seiner immer weiter ausgreifenden Tatkraft wuchs auch sein Ansehen. Sein Comptoir befand sich in einem Palais in der Behrenstraße, und in seinem Wartezimmer bot sich ein merkwürdiger Anblick. Man fand hier hervorragende Diplomaten, Staatsmänner, Beamte und Bankiers, und schon ein Besuch in diesem Comptoir genügte, um die finanzielle Position des Herrn v. Bleichröder zu erkennen. Den glänzendsten Ausdruck fand diese Stellung zur Zeit des Berliner Kongresses, als Herr v. Bleichröder das Palais im Tiergartenviertel, welches er bewohnte, zum Rendezvous der illustren Gesellschaft machte, welche der Kongress nach Berlin geführt hatte. Damals gab er große Feste, auf welchen Graf Andrassy, Disraeli, Schuwalow, Gortschakow und viele andere Vertreter der europäischen Großmächte erschienen. Alle bemühten sich, zu dem Manne, welcher das Vertrauen des Fürsten Bismarck errungen hatte, in freundliche Beziehungen zu treten, und Herr v. Bleichröder war dem Fürsten Bismarck so dankbar, dass er ihm einen wahren Cultus widmete. In seinem Arbeitszimmer sah man mindestens ein Dutzend Darstellungen des Fürsten Bismarck. Das Bild des Fürsten Bismarck hing an allen Wänden und in den verschiedensten Aufnahmen. In der Ecke stand die Marmorbüste des Fürsten Bismarck; man fand hier den Fürsten Bismarck als Briefbeschwerer, als Pfeifenkopf, kurz in allen möglichen Formen. Der Besucher, welcher Herrn v. Bleichröder zum ersten Male sprach, hatte einen eigentümlichen Eindruck. Herr v. Bleichröder war von mittlerer Größe und hagerer Gestalt, der Kopf war scharf ausgeprägt, so wie man sich einen begabten Finanzier vorzustellen pflegt. Schon der Bart war äußerst charakteristisch dicht unter dem Kinn gezogen, während das Kinn glatt rasiert und die Oberlippe ohne Schnurrbart war.
Trat man näher, so erkannte man, dass der Mann, der vielleicht über 80 oder 100 Millionen Mark gebot, im Grunde genommen höchst bedauernswert war. Herr v. Bleichröder war nämlich schon seit zwanzig Jahren nahezu erblindet; nur ein schwacher Lichtschein war ihm geblieben, und um dieses Gebrechen zu verhüllen, trug er dunkle Gläser, hinter welchen man aber dennoch die kranken Augen leicht erkennen konnte. Tastend schob er sich bis zu seinem Sessel vor, auf dem Schreibtische umhertastend suchte er die Zigarre, welche er dem Besucher bot, er konnte nur mit einem Begleiter ausgehen, und der Bankier, welcher sich alle Genüsse der Erde hätte verschaffen können, war durch seinen Gesundheitszustand zu einer sklavischen Diät genötigt. Da der Schlaf ihn floh, stand er bereits um 4 Uhr morgens auf, und schon um diese Stunde musste sich ein Sekretär bei ihm einfinden, der ihm vorlas, dem er diktierte und mit dem er arbeitete. Sommer und Winter machte er um 6 Uhr seinen ersten Spaziergang, und die Berliner kannten genau den alten Mann, der im Winter, noch bevor es Tag geworden war, von einem Diener, der eine brennende Laterne trug, begleitet, im Tiergarten umherwanderte. Herr v. Bleichröder reiste sehr viel, und man behauptete, dies geschehe nicht bloß wegen seiner Geschäfte, sondern auch deshalb, weil die monotone Bewegung des Waggons ihn am raschesten in den Schlaf einlullte. In den letzten Jahren war er auch sehr leidend, und auch im Gespräche zeigte sich eine Schwäche, weil er mit einer gewissen Manieriertheit, die ihm früher fremd war, fortwährend den Namen des Fürsten Bismarck hervorkehrte; es war eine ständige Redensart bei ihm geworden: »Wenn man 25 Jahre hinter dem Stuhle des Mannes gestanden ist, der Europa regiert hat.« Er bewahrte aber dem Fürsten Bismarck auch nach dessen Sturze die größte Treue. Leicht mag ja der Verkehr mit dem Reichskanzler nicht gewesen sein, denn das Temperament des Fürsten Bismarck gehört nicht zu den gelindesten. Man erzählte in Berlin wiederholt von erregten Szenen, welche stattgefunden haben. Fürst Bismarck soll einmal den alten Mann so barsch angefahren haben, dass er selbst über die Wirkung erschrak und ihn mit der Versicherung seiner Freundschaft umarmte. Herr v. Bleichröder hat nach dem Sturze des Fürsten Bismarck jährlich einen Besuch in Friedrichsruhe gemacht und auch keinerlei Beziehungen zu dem neuen Regime angeknüpft. Sein Tod wird auch den Fürsten Bismarck in Erinnerung an alte Zeiten schmerzlich berühren.
Mit der Größe des Berliner Platzes wuchs auch die Bedeutung des Hauses Bleichröder, und er war in allen Hauptstädten Europas fast ebenso bekannt wie in Berlin. Nach Österreich brachten ihn persönliche und geschäftliche Beziehungen sehr häufig. Zunächst war er Vertreter des Hauses Rothschild in Berlin, dann ein hervorragendes Mitglied der Rothschild-Gruppe und überdies hatte seine Tochter einen Österreicher, den Gutsbesitzer Herrn v. Biedermann, geheiratet. So oft Herr v. Bleichröder nach Wien kam, waren seine Apartments im Hotel der Vereinigungspunkt sämtlicher hervorragender Finanziers des Platzes, und sehr oft war seine Ankunft das Signal dafür, dass eine wichtige geschäftliche Entscheidung bevorstehe. Noch im letzten Sommer war er nach Budapest gefahren, um an einer Konferenz mit Herrn v. Wekerle (Sandor Wekerle, Anm.) über die Valuta-Operation teilzunehmen, und damals schon erkannten seine Freunde die Spuren des raschen Verfalles. Herr v. Bleichröder war bereits so geschwächt, dass er während einer Konferenz unter dem Vorsitze des Finanzministers Dr. Wekerle einschlief. Durch die Gründung von Zuckerfabriken in Ungarn war das Haus Bleichröder auch an der industriellen Entwicklung der Monarchie interessiert. Die finanzielle Entwicklung der letzten Jahre war durchaus nicht nach seinem Sinne. Er konnte sich mit der österreichischen Valuta-Regulierung nicht befreunden und wurde in seinen Ansichten durch Herrn v. Dunajewski (Julian Ritter von Dunajewski, Anm.) bestärkt. Er unterließ es niemals, wenn er nach Wien kam, bei dem früheren Finanzminister vorzusprechen. Zum letzten Male geschah dies vierzehn Tage vor der Demission des Herrn v. Dunajewski, und er empfing damals den Eindruck einer sochen [sic] Machtfülle, dass er lächelnd die Meinung, dass Herr v. Dunajewski bereits vollständig entwurzelt sei, als Torheit zurückwies. Das Wesen der österreichischen Valuta-Regulierung hat er nie recht begreifen können, und von ihm stammt die berühmt gewordene Phrase: Also Österreich hat die Absicht, der englischen Bank ihren Metallschatz wegzunehmen. Auf Herrn v. Bleichröder ist auch die skeptische Auffassung, welche der Berliner Markt so lange der österreichischen Valuta-Regelung entgegen gebracht hat, zurückzuführen. Mit dem jetzigen Finanzminister Dr. Steinbach ist er durch ein Missverständnis nicht in Berührung getreten. Herr v. Bleichröder hatte die Absicht, sich ihm vorzustellen, der Finanzminister war jedoch gerade verhindert, ihn zu empfangen, und dieser Zufall, der später rasch aufgeklärt wurde, hat ihn verstimmt.
In Petersburg war Herr v. Bleichröder fast ebenso bekannt wie in Wien. In jener Periode, wo die Finanzminister Reutern (Michael von Reutern, Anm.) und Abasa (Alexander Abasa, Anm.) in Berlin den Stützpunkt ihrer Finanzpolitik suchten, stand das Haus Bleichröder im Vordergrund der russischen Geschäfte. Der vom Fürsten Bismarck begonnene Kampf gegen die russischen Werte hat jedoch die Fortsetzung dieses Verhältnisses unmöglich gemacht. Das Haus Bleichröder entwickelte auf allen Gebieten eine weit verzweigte Tätigkeit. Es war an den Silberkäufen in New York interessiert und gründete dort eine Niederlassung. Nach der Publikation des Windom-Gesetzes glaubte man nämlich allgemein, das Silber werde den sogenannten Paritätspreis wieder erreichen. Amerikanische Bankiers kauften große Mengen an Silber zusammen und verbanden sich dabei mit dem Hause Bleichröder. Das Haus emittierte mexikanische Anleihen; es war an der westfälischen und schlesischen Eisen- und Kohlen-Industrie interessiert, es hatte eine enorme Klientel, deren Vermögensverwaltung es besorgte. Bei aller Solidität hatte das Haus Bleichröder dennoch einen stark spekulativen Charakter, durch welchen es wiederholt alle Börsen in Europa beeinflusste. In bewegter Zeit fanden sich Ordres vom Hause Bleichröder auf allen Plätzen, und der blinde Mann, welcher Eindrücke und Nachrichten nur durch mündliche Mitteilungen empfangen konnte, stand im Brennpunkte des finanziellen Verkehres, hatte täglich Berge von Depeschen zu erledigen und abzusenden und eine Korrespondenz zu führen, wie sie in solchem Umfange wohl kaum ein Privatmann pflegt. Dabei wurde er von seinem Kompagnon, Geheimrate Schwabach, und hervorragenden Mitarbeitern unterstützt. Herr v. Bleichröder wird jedenfalls eine große Lücke auf dem Berliner Markte zurücklassen, und in ihm verliert die Finanzwelt eine interessante Figur, welche in ihrer Sphäre durch die Schwungkraft der größten politischen Ereignisse dieses Jahrhunderts emporgekommen war. Das Glück des Hauses Bleichröder stand im Zusammenhang mit der politischen und wirtschaftlichen Erstarkung des deutschen Reiches. Herr v. Bleichröder hinterlässt drei Söhne, von denen jedoch nur die beiden älteren, Hans und Georg, im Geschäfte tätig sind und voraussichtlich das Haus fortführen werden.«
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