»Der Weltkrieg brach ihr das Herz.« Dorothea Gerard, Böcklinstraße Nr. 53 (und Nr. 86?), ca. 1912-1915

War Dorothea Gerard (1855-1915) die Rosamunde Pilcher ihrer Zeit? Viele dürften dies so sehen. Und dennoch: In Gerards unzähligen, einst sehr erfolgreichen Romanen, die sie allesamt auf Englisch verfasste und u. a. in London publizierte, lässt sich nicht nur einmal Sozialkritik erkennen, auch der wachsende Antisemitismus wird von ihr thematisiert. Was aber weiß man über diese Frau, die Lehmanns Adressbuch erstmals 1912 in der Böcklinstraße anführte?

Dorothea Gerard-Longard de Longgarde

Wie ihre hier schon erwähnte Schwester Emily, die Bram Stoker Informationen zu seinem Schauerroman Dracula lieferte, wurde sie im nebelverhangenen Schottland geboren. Katholischer Adel; seit frühester Kindheit waren die beiden Mädchen überdies befreundet mit Nachfahrinnen von Karl X., dem geflüchteten französischen König und Schwager der auf dem Schafott verstorbenen Habsburgerin Marie-Antoinette. Schulzeit im Grazer Sacré Coeur, danach Vermählung mit dem k.u.k. Offizier Julius Longard von Longgarde. Zeitweise Zusammenarbeit mit Emily – später übrigens eine gute Freundin von Mark Twain – im Rahmen eines Autorinnen-Duos. In der Folge erarbeitete sich vor allem Dorothea, die offenbar der quälenden Monotonie staubiger k.u.k. Garnisonsstädte auf schreibende Weise zu entkommen trachtete, eine große Fangemeinde: Sie veröffentlichte Dutzende Werke, die zumeist um verwickelte Liebesdramen kreisen und gemeinhin unter dem Kürzel »viktorianisch« subsummiert werden. Häufig sind diese Romane, Recha etwa, oder auch Orthodox, in Galizien angesiedelt, am östlichen Rand der Donaumonarchie, in einer auch von jüdischen Schtetln geprägten Region, die Gerard-Longard de Longgarde bestens kannte – sie hatte mit ihrem Mann unter anderem in der Kleinstadt Kossów gewohnt, auf einem pittoresk gelegenen Gut, an einem Fluß und mit Blick auf die dicht bewaldeten Karpaten. 1911 schließlich veröffentlichte sie eine Liebeserklärung an Wien, die, so wurde erzählt, viele angelsächsische Touristen zu einem Trip in die Donaumetropole verführte: Der wie aus der Zeit gefallene Roman The City of Enticement (Die lockende Stadt) erzählt vom schönen, alten Franziskanerplatz und den prächtigen Schlossanlagen in Schönbrunn, er erzählt von der jungen Valerie und dem charmanten Baron Wallersdorf, er ist ein Schlüsselroman, dessen Figurenpersonal zwei Weltkriege später nicht mehr entschlüsselt werden kann.

Im Herbst 1915 schließlich verstarb Dorothea Gerard nach schwerer Krankheit in ihrer Wohnung in der Böcklinstraße. Zwar sucht man in den Wiener Tageszeitungen vergebens nach der üblichen Traueranzeige – angeblich hatte sie sich dies verbeten (warum eigentlich?) -, doch in mehreren Blättern, etwa in der Societypostille Wiener Salonblatt, wurde immerhin knapp vom Ableben der »viel gelesenen englischen Romanschriftstellerin« berichtet. Nun also erfolgte der machtvolle, beeindruckende Auftritt von Klothilde (Clotilde) Benedikt (1868-1939), Gerards Freundin, einer weithin bekannten Vorkämpferin für Frauenrechte, die in liberalen jüdischen Zeitschriften wie Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift publizierte und sich in jüdischen Frauenwohltätigkeitsvereinen engagierte. Benedikt, deren Vater Moritz (Moriz), ein renommierter Neurologe, hier schon in Zusammenhang mit Arnold Ascher erwähnt wurde, widmete der eigentlich durchaus konservativen Autorin einen mehrseitigen, mit warmen Worten ummantelten Text, der Gerards Bescheidenheit rühmt, ausführlich auf ihre galizischen Romane eingeht und ihr vorbildhaftes Verständnis der Armee auf unverblümte Weise anspricht. Aber wieso diese thematische Fokussierung? War Benedikt begeisterte Patriotin oder ließ hier das k.u.k. Kriegspressequartier, die Propagandaabteilung des österreichisch-ungarischen Militärs, grüßen? Wir wissen es nicht.

Klothilde Benedikt, die Dorothea Gerard seit den 1880er Jahren kannte, also schrieb zum Beispiel:

»Der Weltkrieg, der ihr das Herz brach, da die Angehörigen ihrer Familien in zwei sich feindlich gegenüberstehenden Heeren kämpften, hat sie gegen ihren Willen in den Tageslärm hineingezogen, zugleich aber ihrem Schaffen den vollen Glanz der Aktualität gegeben. Die österreichische Armee, das ostgalizische Land, denen sie ihr Lebenswerk geweiht, sie stehen mitten im Weltinteresse; die Hebung jenes Landes, dessen Adel, Gentry und Ghetto unsere Straßen überfluten, dessen kleinstes Dorf uns heute geläufig ist, ist unsere Zukunft und Staatsaufgabe.«

Nach diesen eindringlichen Worten, die auch auf all jene galizischen Männer, Frauen und Kinder verwiesen, welche, auf der Flucht vor den blutigen Kämpfen im Osten der Habsburgermonarchie, nun am Wiener Nordbahnhof strandeten, erinnerte Klothilde Benedikt an ein weiteres, in jenen Tagen sehr bedeutsames Buch ihrer Freundin:

»Als im Vorjahre das Vaterland Männer und Frauen zum blutigen Hilfswerk rief, da veröffentlichte die Gerard endlich die Frucht jahrzehntelanger Erinnerungen und Studien, das Buch The Austrian Officer at Work and Play, das in England Entrüstung und ein Einfuhrverbot, in Deutschland, wo es gedruckt werden musste, reinste Anerkennung auslöste.«

Bald schon wurde Gerards anekdotenreiche Abhandlung auch ins Deutsche übersetzt. Eine der Ausgaben inkludierte ein Bild von Kaiser Franz Joseph, ein Bild, geschaffen von John Quincy Adams, dem Porträtisten der Wiener High Society. Von ihm wird noch zu berichten sein.

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LITERATUR
Helen Black, Pen, Pencil, Baton and Mask. Biographical Sketches (Spottiswoode & Co., London, 1896. Online auf archive.org)
Klothilde (Clotilde) Benedikts Nachruf auf Dorothea Gerard in Neues Frauenleben, Nr. 11, 1915: Austrian Literature Online.
Klothilde Benedikt über Dorothea Gerard-Longard de Longgarde in der Wiener Zeitung, 29. September 1916: Online auf ANNO