Am alten israelitischen Friedhof. Emanuel Winternitz, Böcklinstraße 49 (ca. 1915 – ca. 1926), Teil III

Im alten israelitischen Teil des Wiener Zentralfriedhofes: Die von Kolo Moser vermutlich im Auftrag der Malerin Broncia Koller-Pinell entworfene Gruft der Familie Pineles (links) und das bescheidene Grab von Paul Winternitz (rechts). Foto: Eva Maria Mandl, März 2017.

Wien, 3. Juli 1921. Zwei Tage zuvor war der berühmte Urologe Otto Zuckerkandl verstorben; sein Begräbnis sollte, so wird erzählt, aufgrund einer letztweiligen Verfügung in aller Stille stattfinden. Die Trauerfeier für den Rechtswissenschaftler Stanislaus Pineles hingegen, die an diesem wettermäßig höchst wechselhaften Tag in der alten israelitischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofes abgehalten wurde (auch Zuckerkandl wurde hier beerdigt), sie gestaltete sich zu einer öffentlichen Hommage an einen bemerkenswerten Intellektuellen, den die ihm sehr zugeneigte Wiener Fachpublikation Juristische Blätter in einer Mischung aus Wehmut und Empörung den »ewigen Privatdozenten« nannte: »Pineles war das Muster eines selbstlosen, nur seiner Wissenschaft lebenden Mannes – und ihm, gerade ihm, wurden die akademischen Ehren versagt, die kaum einem anderen so sehr gebührt hätten. Jede Fakultät hätte sich es zur Ehre anrechnen müssen, ihn zu ihren Professoren zu zählen; um seines lauteren Charakters nicht minder, wie um seiner wissenschaftlichen Leistungen willen.«1

Wir wissen nicht, ob sich Emanuel Winternitz von der Böcklinstraße zum Zentralfriedhof aufmachte und dort an Pineles’ Begräbnis teilnahm; es erscheint allerdings als durchaus möglich. Selbst in seinen Jahrzehnte später verfassten biografischen Notizen erinnert er sich an Pineles, widmet ihm mehrere Zeilen: Er schildert einen Vorfall in der Aula der Wiener Universität, wo der Privatdozent für Römisches Recht (»a slight and short gentleman«) zur Zielscheibe einer antisemitischen Bemerkung des Rektors (1920/21) und langjährigen Dekans der juridischen Fakultät Ernst (Freiherr von) Schwind (»a large, bulky, impressive figure, not without personal prejudice«) wurde.2

Dennoch stand auch Schwind an der Bahre, als sich die trauernde Gemeinde versammelte, um Pineles zu verabschieden. Und Hans Kelsen natürlich, damals zudem Dekan der juridischen Fakultät. Ebenfalls anwesend war die Familie des Verstorbenen, unter anderem sein Bruder Friedrich, Internist und über mehrere Jahre Geliebter der Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé; sein Schwager Josef Herzig, Chemiker und Lieben-Preisträger (1902), Gatte der kunstsinnigen, intellektuellen Etka Herzig (geb. Pineles), Jugendfreund von Sigmund Freud; ein weiterer Schwager, Hugo Koller, Unternehmer, Kurzzeit-Schwiegervater von Anna Mahler und Gatte der Malerin Broncia Koller-Pinell (geb. Pineles). Letztere war wohl auch verantwortlich für die beeindruckende Gestaltung der Familiengruft – sie wurde von dem mit ihr befreundeten Kolo Moser entworfen.3

Der Grabstein der Familiengruft Pineles. Foto: Eva Maria Mandl, März 2017; für eine größere Version des Bildes hier klicken.
Detail des Grabes (v. l. n. r.): Dr. Friedrich Pineles, Professor an der Wiener Universität (1868–1936); Dr. Stanislaus Pineles, Privatdocent an der Wiener Universität (1857–1921); Saul Pineles (1834–1903); Dr. Josef Herzig, Professor der Chemie an der Wiener Universität (1853–1924); Frau Etka Herzig, geborene Pineles (1859–1936). Foto: Eva Maria Mandl, März 2017; für eine größere Version des Bildes hier klicken

Laut Neuem Wiener Tagblatt waren überdies folgende Personen zugegen:
»[…] die Professoren Hofrat Dr. Wlassak (Anm: wohl Moriz Wlassak), Hofrat Dr. Tezner (Anm: wohl Friedrich Tezner), Regierungsrat Dr. Kreidl, Dr. Wegscheider, Dr. Hupka (Anm: wohl Josef Hupka), Doktor Goldmann (Anm: wohl Emil Goldmann), Dr. Bratzloff (Anm: wohl Stephan Bratzloff), der Direktor der Universitätsbibliothek Hofrat Dr. Frankfurter (Anm: Salomon Frankfurter), Komponist Julius Bittner und andere. Nach der Zeremonie trat Professor Dr. Kelsen an die Bahre, um im Namen der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät von dem verstorbenen Gelehrten Abschied zu nehmen. In warmen Worten würdigte er sein Wirken, das ihm den Dank der Universität und ein ehrendes Andenken in der Fakultät sichere.«4

Immer im Blickfeld der danach an Pineles’ letzter Ruhestätte vereinten Juristenzunft war ein schmales, schmuckloses Grab in der unmittelbaren Nachbarschaft. Hier hatte man einst den Vater von Emanuel Winternitz, Kelsens engem Mitarbeiter, beerdigt. Was mag den versammelten Rechtswissenschaftlern wohl diesbezüglich durch den Kopf gegangen sein?

Schmal und schmucklos: Das Grab von Paul Winternitz. Foto: Eva Maria Mandl, März 2017; für eine größere Version des Bildes hier klicken.

Paul Winternitz nämlich hatte sich erschossen. Es geschah am 18. Jänner 1904, in den Räumlichkeiten seiner Wiener Zweigniederlassung, Adresse Wipplingerstraße 35, vis-à-vis von der Börse also. In jenem Gebäude, an dessen Stelle sich heute das Haus der Europäischen Union (Informationsbüro des Europäischen Parlaments, Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich) erhebt.

Ein Angestellter fand den Leichnam um 13:30 Uhr.

Blick auf die Börse an der Ecke zur Wipplingerstraße, ca. 1898.

Dem schockierenden Suizid des 45-jährigen, in Königinhof/Dvůr Králové nad Labem ansässigen Textilindustriellen vorangegangen war die für ihn nun unleugbare Tatsache, wirtschaftlich völlig ruiniert zu sein, den beschämenden Konkurs nicht abwenden zu können, mit seiner mehrköpfigen Familie vor den Trümmern der gemeinsamen Existenz zu stehen.

»Die Nachricht von dem Selbstmorde des Fabriksbesitzers verbreitete sich rasch, insbesondere unter den Baumwollindustriellen, und wurde viel besprochen«, berichtete das Neue Wiener Tagblatt. Von mangelndem Eigenkapital war in diesem langen und höchst ausführlichen Artikel zu lesen, von Banken, die sich weigerten, weitere Kredite zu gewähren, und auch von der für die taumelnde Firma Winternitz & Friedmann letztlich desaströsen Hausse am US-amerikanischen Baumwollmarkt.5 Ähnlich detailliert berichtete auch die Neue Freie Presse: »Der Inhaber eines ehemals sehr bedeutenden und in der Branche hochangesehenen Fabriksunternehmens, das aber in letzter Zeit in ungünstigen Verhältnissen war, hat heute nachmittags in seinem Wiener Bureau einen Selbstmord verübt. […] Der Niedergang der Firma, deren früheres Etablissement, in Königinhof hart an der Elbe gelegen, zu den ältesten und bedeutendsten der großen Industriestadt zählte, lässt sich auf Jahre zurückverfolgen.«6

Paul Winternitz, studierter Jurist, ein Mann, der sich »in der Geschäftswelt seiner trefflichen persönlichen Eigenschaften wegen« großer Beliebtheit erfreute, er hinterließ eine Gattin (Gisela) sowie drei minderjährige Kinder (Emanuel, Carla, Wilhelm). Wie schwierig die nachfolgenden Jahre für die junge Witwe gewesen sein müssen, darüber kann man allerdings nur spekulieren. 1907 schließlich heiratet Gisela (geb. Steingraber) den Anwalt Adolf Kappelmacher und übersiedelt später in die Böcklinstraße 49; in diesem Blog wurde hiezu schon berichtet.

Abschließend soll auch auf ein Grab verwiesen werden, das sich nicht weit entfernt von Paul Winternitz’ letzter Ruhestätte befindet: Hier ruhen Moriz Friedmann, der ehemalige Geschäftspartner von Paul Winternitz, und seine Gattin Pauline. Letztere, eine Cousine und Adoptivschwester von Paul Winternitz, war ebenfalls vom Bankrott der Firma Winternitz & Friedmann betroffen; fast zeitgleich zu ihrem unglücklichen Verwandten hatte auch sie, in ihrer Wiener Wohnung Maria-Theresien-Straße 3 (1090 Wien), einen Suizidversuch unternommen, konnte jedoch gerettet werden. Das Grab der Friedmanns ist – und hiermit wird ein Bogen zum vorangegangenen Blogbeitrag über Eugen Lennhoff geschlagen – mit einem Freimaurer-Symbol geschmückt.

Moriz Friedmann ist im Eintrag zu Emanuel Winternitz im Geburtsbuch der Israelitischen Kultusgemeinde (Jahr 1898, fol. 183, Nr. 1796) übrigens als Zeuge angeführt (online). Auf derselben Seite wurde, was nicht unerwähnt bleiben soll, auch die Geburt der späteren Innenarchitektin und Malerin Friedl Dicker notiert (Nr. 1793) – sie wird mit Franz Singer das Gästehaus Hériot in der Rustenschacherallee 30 errichten.

Das mit einem freimaurerischen Symbol geschmückte Grab von Moriz und Pauline Friedmann. Foto: Eva Maria Mandl, März 2017; für eine größere Version des Bildes hier klicken.

1 Juristische Blätter,Nr. 15 und 16, 7. August 1921, S. 126 (online auf ANNO)
2 Emanuel Winternitz: The Luggage of an Immigrant (Typoskript)
3 Die Grabstelle wurde im Jahr 2005 von Schülern des GRG 3 Hagenmüllergasse 30 (1030 Wien) in Zusammenarbeit mit dem Bundesdenkmalamt restauriert. Mehr zu diesem Projekt: http://www.grg3.homeip.net/schule/proj/nawi/2005/herzig/herzig.html
4 Universitätsdozent Dr. Stanislaus Pineles. Neues Wiener Tagblatt (Tagesausgabe), 5. Juli 1921, S. 6 (online auf ANNO)
5 Selbstmord eines Industriellen. Neues Wiener Tagblatt (Tagesausgabe), 19. Jänner 1904, S. 4 (online auf ANNO)
6 Selbstmord eines Fabriksbesitzers. Neue Freie Presse, 19. Jänner 1904, S. 9 (online auf ANNO)