Mary Dear am Donaukanal: Die Häuser der Familien Vetsera und Baltazzi, Schüttelstraße 7-9 (ehemals 11, ab 1870) und Praterstraße

Mary Vetseras Geburtshaus am Schüttel.
»Ein zweistöckiges Haus mit breiter Einfahrt, darüber ein breiter Balkon in der Beletage«: Das Geburtshaus von Mary Vetsera in der Schüttelstraße. Foto: Baltazzi-Scharschmid/Swistun, Die Familien Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien.

Sultan Abdülmecid I. war, so wird erzählt, ein durchaus fortschrittlicher Mann. Theodore Baltazzi wird dies – vielleicht erfreut? – registriert haben. Der einflussreiche, in Konstantinopel ansässige Finanzmagnat unterstützte viele Projekte der Hohen Pforte, gemeinsam mit Bankiers wie den später in Paris bestens bekannten Camondos (Angehörige dieser Familie lebten übrigens auch in Wien). Der geschäftstüchtige Theodore verfügte zudem über eine weitere, ebenfalls ergiebige Einkommensquelle: Er kassierte die Mautgebühren für die Galata-Brücke, jene legendäre Überquerung des Goldenen Horns, die nach wie vor zum Pflichtprogramm ambitionierter Istanbul-Touristen zählt. Theodore Baltazzi ist aber auch für das Pratercottage von Bedeutung: Er war der Großvater von Mary Vetsera.

Haus Vetsera, Plan von Vazquez
Der Schüttel aus der Sicht von Carl Graf Vazquez (1830): Links im Bild ist das spätere Vetsera-Wohnhaus zu sehen.

Als nämlich der österreichische Diplomat Albin Freiherr von Vetsera (1825-1887) mit seiner um vieles jüngeren Frau Helene (1847-1925), geborene Baltazzi, Theodores Tochter und angeblich »das reichste Mädchen von Konstantinopel«, um 1870 einen Wohnsitz in Wien suchte, fiel ihre Wahl auf ein Gebäude am Donaukanal, das erstaunlicherweise auch an jene Bosporus-Paläste erinnert, die man aus Helenes Heimatstadt kennt. Es war »ein zweistöckiges Haus mit breiter Einfahrt, darüber ein breiter Balkon in der Beletage«, schrieb Heinrich Baltazzi-Scharschmid, Helenes Neffe, in seinen interessanten, gemeinsam mit Hermann Swistun verfassten Erinnerungen an das k.u.k. Wien. »Stand man vor dem Haus, Front zum Kanal, so lag es rechter Hand neben dem Grund der alten Vincenz-Mackschen Dampfmühle und Zuckerraffinerie, während linksseitig neben dem Garten ein Weg, bekannt als ›Praterdurchgang‹, hinunter in die Lunge Wiens führte. Einige Fuß- und Reitwege überquerend, stieß man da bald auf die viereinhalb Kilometer lange, schnurgerade, prachtvolle Kastanienallee« – die Hauptallee.

Dies also war das Haus, in dem Mary Vetsera, genannt »Mary Dear«, am 19. März 1871 geboren wurde. Die anschließende Taufe führte die Familie in die nahe Praterstraße, wo Helenes Schwester Marie-Virginie (Bibi) in der Johann-Nepomuk-Kirche als Patin fungierte. Auch Bibi hatte es nicht weit: Sie wohnte gemeinsam mit ihrem Mann Albert Graf Saint-Julien auf dem damals noch Jägerzeile benannten Prachtboulevard. Die einstige Saint-Julien’sche Residenz existiert übrigens nach wie vor – das von Architekt Franz Xaver Ehmann entworfene Gebäude in der Praterstraße 28 bildet einen doch erheblichen Kontrast zu seiner Umgebung (siehe Foto), wobei über den derzeit verlassenen und entsprechend vergammelten Eingangsbereich der Mantel des Schweigens gebreitet werden soll.

Die Baltazzi-Schwestern und ihre Ehemänner Vetsera, Saint-Julien und Stockau
Die am Schüttel bzw. in der Praterstraße ansässigen Baltazzi-Schwestern und ihre Männer. Links: Albert Graf Saint-Julien, Bibi von Saint-Julien (am Boden sitzend), Helene Vetsera und Albin von Vetsera. Rechts: Eveline Stockau und Georg Graf Stockau.

Ebenfalls bei der Taufe vor Ort war eine weitere der Baltazzi-Schwestern: Eveline, die damals gemeinsam mit den Vetseras am Schüttel wohnte. Auch sie wird später in die Praterstraße ziehen. Georg Graf von Stockau – „schlank, hochgewachsen, elegant, mit leichter Hakennase“ (Hermann Swistun) -, ihr zukünftiger Ehemann, erwirbt 1887 ein Palais an der nunmehrigen Adresse 46 (mittlerweile durch einen Neubau ersetzt). Es wird Georg von Stockau sein, der gemeinsam mit seinem Schwager Alexander Baltazzi die tote Mary als erster der Familie in Mayerling zu Gesicht bekommt. Und es werden auch diese beiden Männer sein, welche die letzte Reise der von Kronprinz Rudolf erschossenen Baroness von Mayerling nach Heiligenkreuz, zu ihrer Begräbnisstätte, begleiten sollten – ein vom panikgetriebenen Hof diktierter und sehr unwürdiger Vorgang.

Marie von Larisch-Wallersee und Mary Vetsera
Marie von Larisch-Wallersee, die unter anderem in der Praterstraße wohnhaft war, und ihr »Schützling« Mary Vetsera (19. März 1871-30. Jänner 1889).

»Ich war aufs höchste bestürzt über sein verändertes Aussehen, denn herein trat ein gebrochener Mann«, erinnerte sich Marie von Larisch-Wallersee (1858-1940), die, in der Hoffnung auf nähere Informationen, den Grafen vier Tage danach getroffen hatte. Die Nichte von Kaiserin Elisabeth, ohne deren merkwürdige Kuppelaktivitäten die Liaison zwischen dem suizidalen Thronfolger und der ihn schwärmend anbetenden Mary Vetsera gar nicht zustande gekommen wäre, war, das soll hier abschließend notiert werden, auch einmal in der Praterstraße ansässig: laut ihren Memoiren (My Past, 1913) wohnte sie während der 1880er-Jahre gemeinsam mit dem ungeliebten Ehegespons Georg im Haus Nr. 38.

Dieses auch als Palais Rohan bekannte Gebäude, es steht noch. Das Vetsera-Refugium am Schüttel (siehe auch hier sowie, als zweites Haus von rechts,  auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1899) hingegen existiert nicht mehr, ebensowenig wie jenes Palais in der Salesianergasse 11, das die Familie ab ca. 1880 bewohnte. Und doch findet man im Pratercottage nach wie vor einen Bau, der in engem Bezug zu den Vetseras und Baltazzis steht. Am Beginn der Rustenschacherallee, auf Nr. 6, kann man sie finden, diese schöne Villa, die 1891 von Owen Maurits Roberts van Son errichtet wurde. Der niederländische Generalkonsul und Aristokrat hatte sich nicht nur als umtriebiger Geschäftsmann einen Namen gemacht, sondern auch als exzellenter Reiter. In den 1870er-Jahren, als »Mary Dear« durch den Garten tollte und ihre Mutter Helene sich mit eleganten Festen (Weltausstellung 1873!) ihren Platz in der Wiener High Society erkämpfte, wohnte er schon am Schüttel, in unmittelbarer Nachbarschaft der Vetseras. Und die pferdesportbegeisterten Brüder Baltazzi, die in internationalen Turfkreisen über einen hervorragenden Ruf verfügten, zählten spätestens seit damals ebenfalls zu seinem persönlichen Bekanntenkreis.

LITERATUR
Heinrich Baltazzi-Scharschmid; Hermann Swistun, Die Familien Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien (Böhlau Verlag. Wien-Köln-Graz, 1980)

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. alexander schatek

    Liebe Frau Mandl!
    In Ihrer Liste der historischen Straßenbezeichnungen führen Sie an: „Prinzenallee: seit 1921 Rustenschacherallee“: die Bezeichnung „Prinzenallee“ verwendet auch noch Josef Schöner in seinem „Wiener Tagebuch 1944/1945“, als er die makabre Schönwetterstimmung im Herbst 1944 rund um „seine“ Meierei Krieau beschreibt. Die Spaziergänger kurz vor dem Show Down des Weltkrieges. Ein intensives Buch. LG AS

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