»Auch von mir die herzlichsten Glückwünsche.« Egon Schiele, Kurzbauergasse 6 (1907-1909)

Das 1906 errichtete Haus Kurzbauergasse 6/Böcklinstraße 10. Schieles Atelier befand sich im
letzten Stockwerk hinter den beiden oben abgerundeten Fenstern. (Foto: Wien Kulturgut)

Es war ein unfreundlicher, nebelverhangener Dezembertag. Die Temperatur bewegte sich zwischen 0 und 3 Grad, ein ständig wiederkehrender Nieselregen erwies sich überdies als äußerst lästig. In den großen Wiener Geschäftsstraßen, wo an diesem letzten Advent-Wochenende die Läden auch am Sonntag geöffnet hatten, machte sich fassungslose Bestürzung breit: Ausgerechnet an einem der früher umsatzstärksten Tage des Jahres herrschte nun Flaute!  Erst am Abend, als sich das Wetter gebessert hatte, würde sich das für den »Goldenen Sonntag« gewohnte Bild ergeben, notierte die Neue Freie Presse: »Zwischen 6 und 7 Uhr abends sah man in dem ganzen Straßenzuge von der Rotenturmstraße über den Stephansplatz und die Kärntner Straße bis zur Oper eine riesige Menschenflut die Trottoirs füllen.«

Wir wissen nicht, wie der 18jährige, in Tulln geborene und nun in Wien lebende Kunststudent diesen Tag – es war der 20. Dezember 1908 – verbracht hat. Vielleicht arbeitete er in seinem ersten eigenen, im obersten Stockwerk befindlichen Atelier in der Kurzbauergasse 6, aus dessen Fenstern er die Böcklinstraße (damals: Valeriestraße) überblicken konnte. Vielleicht besuchte er seinen Onkel (und Vormund), zu dem er eine durchaus spannungsgeladene Beziehung pflegte, in der nahen Zirkusgasse. Vielleicht traf er Klimt, den er ein Jahr zuvor kennen gelernt hatte. Vielleicht befand er sich in einem Kaffeehaus, beugte sich über die aktuellen Zeitungen und las dort von einem Raubmord am Laurenzerberg (ein damals die Menschen bewegender Kriminalfall, der mit besonders drastischen Fotos illustriert war) oder von den Planungen zum Bau einer Wiener Moschee – Artikel, die großflächig begleitet wurden von Anzeigen für Christbaumschmuck, Weihnachtsmärkte und Süßwaren. Vielleicht plauderte er auch mit Leo Ascher, dem Komponisten, der ebenfalls in der Kurzbauergasse 6 wohnte (und über den in diesem Blog noch berichtet werden wird). Wir wissen aber, dass Egon Schiele (1890-1918), denn um ihn handelt es sich bei unserem jungen Maler, an diesem bewussten, von trübem Wetter geprägten Adventsonntag zu einem bestimmten Zeitpunkt in seinem praternahen Refugium an einem Tisch saß und einen kurzen Brief verfasste. Adressiert ist er an Wolfgang Pauker, den kunstsinnigen Augustiner Chorherren in Klosterneuburg, der Schiele seit längerem tatkräftig förderte (und ihm gemeinsam mit dem Lehrer und Maler Ludwig Karl Strauch auch den Weg an die Akademie der Bildenden Künste geebnet hatte. Überdies hatte Schiele im Frühjahr 1908 im Kaisersaal des Stiftes erstmals an einer öffentlichen Ausstellung teilgenommen). »Sehr geehrter Herr Doktor!« schrieb also ein weihnachtlich gestimmter Schiele, »Bitte auch von mir die herzlichsten Glückwünsche zu den kommenden Feiertagen entgegennehmen zu wollen.« (Das digitalisierte Original des Briefes ist hier zu sehen.)

Ein Jahr später versandte Schiele seine Weihnachtspost hingegen von anderer Stelle: Das Atelier beim Prater, das 1907 bezogen worden war, hatte sich als zu teuer entpuppt – im Sommer 1909 war er daher in die Alserbachstraße 39 übersiedelt und danach, im November 1909, in die Grünbergstraße 31.

Egon Schiele, Häuser im Winter (Österreichische Galerie Belvedere)

Abgesehen von jenem Brief an Pauker – was lässt sich noch zu Schieles Aufenthalt im Pratercottage finden? (Noch) liegt diese Zeit ein wenig im Dunkeln. Das Bild Häuser im Winter (1907/08) wurde vor einigen Jahren häufig mit „Blick aus dem Atelier“ untertitelt und mit dieser Adresse in Zusammenhang gebracht. Tatsächlich erscheint diese Zuordnung jedoch eher zweifelhaft. Eine Spurensuche vor Ort verlief im übrigen ergebnislos – nach einem umfassenden Dachbodenausbau existiert die einstige Wohnung Nr. 23 in der Kurzbauergasse 6 nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. brm

    auch ich nehme die glückwünsche von egon schiele und eva maria mit freude entgegen!liebe güßebrigitteAm 02.04.2011 um 11:04 schrieb Pratercottage:

  2. Eva Maria

    Danke! Ich hoffe, dass die fortschreitende Digitalisierung der Autographen weitere Informationen über diesen Abschnitt in Schieles Biographie zutage fördert. Liebe Grüße, Eva

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