Lajos Löwensteins Sohn: Peter Lorre, hier an der Seite von Humphrey Bogart in Casablanca. Wie mögen sie sich wohl abgespielt haben, die gemeinsamen Sitzungen von Lajos (auch: Ludwig) Löwenstein, dem korrekten Oberbuchhalter, und Julius Jolesch, dem energischen Generaldirektor? Wurde ausschließlich über Zahlen gesprochen? Erlaubten sich die beiden Herren gelegentlich einen Scherz? Löwenstein, ab 1917 mit seiner Familie ansässig in der Böcklinstraße 88, Vater des später weltberühmten Schauspielers Peter Lorre (1904–1964), und Jolesch, dessen Gattin es angeblich war, die dank Friedrich Torberg in die Wiener Literaturgeschichte einging[1], hatten rund um 1911 jedenfalls durchaus viel zu besprechen: Sie mussten sich – aufopfernd?…
Obige Illustration wurde dem britischen Strand Magazine (Nr. 25, Jänner 1893) entnommen. Sie zeigt die viktorianische Schriftstellerin Dorothea Gerard (1855-1915) und war Teil eines kurzen Artikels, in welchem die damals sehr populäre Gerard von ihrer Biografie und der Zusammenarbeit mit ihrer älteren Schwester Emily erzählt. Als Vorschau zu einem Text über die beiden in Schottland geborenen Frauen, die mit k. u. k. Offizieren verheiratet waren – Dorothea mit Julius Longard de Longgarde, Emily mit Miecislaus Laszowski von Kraszkowice – , zuletzt in Wien lebten – Dorothea in der Böcklinstraße, Emily in der Neulinggasse – und auch hier begraben sind – Dorothea am Zentralfriedhof, Emily (Emilie) in Grinzing -, folgen nun Exzerpte zu Emily Gerard und ihrem großen Einfluss auf Bram Stoker. Dessen berühmter Schauerroman Dracula (1897) nämlich nimmt, wie man auch dank seiner Notizen erkennt, in wesentlichen Teilen Bezug auf ihre Abhandlung Transylvanian Superstitions (Transsilvanischer Geisterglaube) – Madame de Laszowska, wie Emily von Stoker genannt wurde, hatte sie 1885 verfasst, basierend auf ihren Recherchen in Siebenbürgen (Transsilvanien), wo ihr Gatte 1883-1885 stationiert war. (1888 veröffentlichte sie eine Zusammenstellung mehrerer ihrer »transsilvanischen« Texte in dem Buch The Land Beyond the Forest, das online auf archive.org abrufbar ist.) Der in den Körper getriebene Pflock, der abgetrennte Kopf, der mit Knoblauch gefüllte Mund – all dies findet man zuerst bei Gerard, danach in Stokers Notizen zu ihrem Text, und schließlich, kunstvoll eingebettet, auch in Dracula.
Mit der Straßenbahn über den Ring zum Prater: Filmstill aus Vienne en Tramway (1906) inklusive Zirkus Busch und Würfeluhr.
Sehr leise – man kann durchaus sagen: fast ein wenig schüchtern! – wurde kürzlich eine Plattform mit historischem Filmmaterial zu Wien online gestellt. Diese noble Zurückhaltung ist natürlich völlig unbegründet, denn: Mit den hier versammelten Aufnahmen kann man Stunden, Tage, Wochen verbringen. StadtFilmWien beruht auf den Ergebnissen eines umfangreichen Forschungsprojekts, das unter der Ägide von Ludwig Boltzmann Institut, Österreichischem Filmmuseum sowie Gustav Deutsch und Hanna Schimek durchgeführt wurde. Bis dato sind 77 Filme (Amateuraufnahmen, Wochenschauen, Werbefilme, Dokus, etc.) zu sehen, wobei, so der Plan, eine Aufstockung der Online-Datenbank auf rund 100 Filme erfolgen soll. Begleitet wird das wertvolle Zelluloid-Material von vertiefenden, Kontext-spezifischen Texten.
Auguste-Olympe Hériots Wurzeln und die Quelle seines Reichtums: Das Pariser Großkaufhaus Grands Magasins du Louvre. Hier schlug die Geburtsstunde der Konsumgesellschaft.
Noch während 2011 mehrere britische Städte von abrupten und sehr heftigen Ausschreitungen erschüttert wurden, publizierte Zygmunt Bauman einen viel beachteten Essay. Seine Kernthese: »These are riots of defective and disqualified consumers.« Ob man ihm nun zustimmt oder nicht – der renommierte Philosoph und Soziologe eröffnete damit jedenfalls eine interessante Debatte über die soziokulturellen Auswirkungen der Konsumgesellschaft, die in den kommenden Jahren an Intensität wohl zunehmen wird.
Warum dieser die aktuelle Politik betreffende Verweis hier, in einem Text über Auguste-Olympe Hériot, zu finden ist? Nun, sobald man sich auf dessen Spuren begibt, stösst man unweigerlich auf Émile Zolas Das Paradies der Damen (Au Bonheur des Dames). Der umfangreich, auch anhand vieler Interviews, recherchierte und 1883 erschienene Roman rund um ein Pariser Warenhaus enthält nicht nur wesentliche Elemente der Hériot’schen Familienchronik, sondern entpuppt sich überdies als verblüffend scharfsichtiges Porträt einer Gesellschaft, die, gesteuert durch ausgefeilte Verkaufstechniken, sich einem ungehemmten Shoppingwahn hingibt. Vieles, allzu vieles klingt hier höchst vertraut: »Endlich wurde geöffnet, und der Strom der Kunden setzte ein. Gleich in der ersten Stunde, noch ehe die dahinter liegenden Geschäftsräume sich gefüllt hatten, entstand unter dem Eingang ein solches Gedränge, dass die Polizei einschreiten musste, um den Bürgersteig für den Verkehr freizuhalten. Mouret hatte richtig gerechnet: eine geballte Masse von Köchinnen, Haushälterinnen und kleinen Bürgersfrauen stürzte sich auf diese billigen Artikel, man stieß und drängte sich, ein dichter Menschenknäuel balgte sich um die Waren.«
Es waren also Szenen wie diese, die sich vor den Grands Magasins du Louvre abspielten, jenem riesigen, 1855 von Auguste Hériot (1826-1879), Alfred Chauchard und Charles Eugene Fare gegründeten Warenhaus, das gemeinsam mit dem von Aristide Boucicaut drei Jahre zuvor eröffneten Einkaufstempel Le Bon Marché dem faszinierten Zola als unwiderstehliches Role Model diente. Besagte Kaufhäuser waren die weltweit ersten ihrer Art; sie begründeten nicht nur die Konsumgesellschaft, sondern schlugen auch eine Schneise ins damals nach wie vor existierende Pariser Klassensystem: In ihren Hallen trafen erstmals in gleich berechtiger Weise kleine Angestellte auf das aufstrebende Bürgertum und Teile der Aristokratie. Allerdings wurden, wie man selbst bei dem dieser Entwicklung durchaus positiv gegenüberstehenden Zola nachlesen kann, erhebliche Teile des oftmals in kleinen, dunklen Geschäften angesiedelten Einzelhandels ruiniert und enormer Preisdruck auf die Produzenten der Waren ausgeübt.
Who can know the year, my dear, when an old man’s blood grows cold? – W. B. Yeats, The Wild Old Wicked Man, 1937
»Ich habe es machen lassen.« berichtete W. B. Yeats im Frühsommer 1934 begeistert einem erstaunten Dubliner Freund. Mit »es« spielte der damals 69-jährige Nobelpreisträger auf jene Operation an, die ihm, der mit dem Alterungsprozess nur schwer zurechtkam (»That is no country for old men« klagte er etwa 1928 in Sailing to Byzantinum), erneut erotische Höhenflüge ermöglichen sollte: Eine Vasektomie, ausgeführt durch den flamboyanten Sexologen Norman Haire in London. Als praktischer Nebeneffekt würde sich zudem der hohe Blutdruck des Dichters senken. Yeats war also, wenig überraschend, bester Dinge und ließ sich auch durch spitze Bemerkungen fehlinformierter Zeitgenossen nicht aus der Ruhe bringen: Das sei doch, als würde man einen Cadillac-Motor in einen Ford einbauen, witzelte etwa Schriftstellerkollege Frank O’Connor.
Doch tatsächlich hatte der notorische Womanizer Yeats, erstens, sich eben nicht, wie O’Connor vermutete, Affendrüsen transplantieren lassen (damals ebenfalls à la mode), und, zweitens, in jenen fünf Jahren zwischen dem oben geschilderten Eingriff und seinem Tod noch vier ernsthafte sexuelle Beziehungen. Eine der Frauen, die linke, mit dem Anarchismus sympathisierende Autorin Ethel Mannin, kleidete sich, auch in Absprache mit Norman Haire, bei den Tête-à-têtes gar besonders verführerisch, um Yeats wie auch sich selbst vom Erfolg der Operation zu überzeugen. Zufrieden schrieb der (im übrigen verheiratete) Ire also 1937: »Nicht nur meine Kreativität wurde wiederbelebt, sondern auch mein sexueller Appetit. Und dies wird wahrscheinlich bis an mein Lebensende so bleiben.« In Wien nahm man die frohe Kunde wohl mit gewisser Genugtuung auf. Das theoretische Fundament zu dieser Operation hatte nämlich Eugen Steinach gelegt, am Vivarium tätiger Wissenschafter, ansässig in der Böcklinstraße und spätestens seit den 1920er Jahren weltweit bekannt – und umstritten – als »Verjüngungsarzt«. So ließ sich nicht nur Yeats »steinachen«, nein: Der an Krebs erkrankte Freud hatte sich im November 1923 ebenfalls dieser Operation unterzogen (sie habe allerdings nichts bewirkt, klagte er im August 1924). Auch Arthur Schnitzler zeigte sich an den Steinach’schen Forschungen sehr interessiert. Andere hingegen winkten ab: »Würden Sie sich steinachen lassen« wurde etwa 1924 George Bernard Shaw gefragt. »Ich möchte nicht verjüngt werden« antwortete dieser. »Wenn ich einen Wunsch habe, so ist es der, senilisiert zu werden«.
Ich kenne den Mann recht gut, er ist hoch gebildet, geistvoll, im Gespräch sehr amüsant, und oft habe ich mich mit ihm, namentlich über Wagner, glänzend unterhalten. Als Musiker ist er, nach dem Urteil all seiner Kollegen, ersten Ranges. – Thomas Mann über Hanns Eisler, 1947
Aber es ist wirklich zu dumm, dass erwachsene Menschen, Künstler, die wahrhaftig Besseres zu sagen haben sollten, sich mit Weltverbesserungstheorien einlassen, obwohl man ja aus der Geschichte wissen kann, wie all das ausgeht. Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich ihn wie einen dummen Jungen übers Knie legen und ihm 25 heruntermessen und ihn versprechen lassen, dass er nie mehr seinen Mund aufmacht und sich auf Notenschreiben beschränkt. Dafür hat er Talent und das andere soll er andern überlassen. – Arnold Schönberg über Hanns Eisler nach dessen Verhör vor dem House Committee on Un-American Activities, 1947
Laut Charlie Chaplin wie einem Shakespeare’schen Königsdrama entsprungen: Die Geschwister Hanns, Ruth Elfriede und Gerhart Eisler.
Es war die eigene Schwester. Als die einst linksradikale und 1936 von Stalin zum Tode verurteilte Elfriede Friedländer (geb. Eisler, Kampfname: Ruth Fischer, weitere Decknamen siehe hier) 1947 vor dem House Committee on Un-American Activities (HCUA) erschien und ihre Brüder Hanns (Komponist und langjähriger künstlerischer Partner von Bertolt Brecht) und Gerhart (bis zur Machtübernahme durch die Nazis bekannter Funktionär der deutschen KP) beschuldigte, in den USA als kommunistische Spione tätig zu sein, war dies nicht nur der Startschuss für die Verfolgung unzähliger Hollywood-Größen wie etwa Charlie Chaplin (er war mit Hanns Eisler eng befreundet und wählte schließlich den Gang ins Schweizer Exil), nein: Elfriedes Aussagen sind wohl auch als absurder Höhepunkt einer innerfamiliären Entwicklung zu sehen, die ihren Anfang im Gebäude Schüttelstraße 19a genommen hatte.
M – Eine Stadt sucht einen Mörder (1931). Regie: Fritz LangDer Mann, der zuviel wusste (1934). Regie: Alfred HitchcockDer Malteser Falke (1941). Regie: John Huston(mehr …)